«Literaturclub»-Moderatorin Nicola Steiner
Mein Leben in Büchern

Ein Kult-Jugendbuch, ein Erfahrungsbericht aus der Berliner Drogenszene und Klassiker von Anne Frank bis Leo Tolstoi: SRF-«Literaturclub»-Moderatorin Nicola Steiner verrät, welche Bücher ihr Leben nachhaltig geprägt haben.
Publiziert: 06.04.2021 um 07:05 Uhr
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SRF-«Literaturclub»-Moderatorin Nicola Steiner verrät, welche Bücher ihr Leben nachhaltig geprägt haben.
Foto: Siggi Bucher
Aufgezeichnet von Patricia Broder

Bücher können uns fesseln, zum Träumen bringen und uns in fremde Welten entführen. Und wenn uns ein Buch ganz besonders gefällt, bleibt es uns oft jahrelang in Erinnerung und vermag sogar unser Leben zu prägen. Nicola Steiner (46), Moderatorin des SRF-«Literaturclub», verrät BLICK exklusiv, welche Bücher zu ihren Lieblingswerken gehören und sie als Jugendliche und als Erwachsene zum Schwärmen oder Nachdenken brachten.

«Die Brüder Löwenherz» von Astrid Lindgren
Als ich neun war, hat mich die Geschichte über die beiden Brüder Jonathan und Krümel erstmals beim Lesen zum Weinen gebracht – dass zwei Hauptfiguren sterben, war damals ungewohnt. Gleichzeitig gab mir der Gedanke, dass zwei sich liebende Menschen nach dem Tod wieder zueinanderfinden, Trost in einem Alter, in dem die Angst vor dem eigenen Tod und dem der Liebsten langsam Gestalt annimmt.

«Das Tagebuch der Anne Frank»
Das Tagebuch von Anne Frank hat mich als Elfjährige tief erschüttert: auf der einen Seite die Sorgen eines pubertierenden Mädchens mit all den Konflikten, die man selbst so gut kennt, auf der anderen Seite dieses entsetzliche Schicksal, das für so viele steht. Die sogenannte Holocaust-Literatur hat meine Jugendjahre geprägt: Jorge Semprún, Ruth Klüger, Primo Levi.

«Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» von Christiane F.
Als ich 13 Jahre alt war, legten mir meine Eltern dieses Buch als Pflichtlektüre aufs Bett, als Abschreckung und Warnung vor dem Bahnhof Zoo. Wenn ich zum Zoo fuhr, um ins Kino zu gehen, sollte ich so schnell wie möglich den Bahnhof verlassen. Während der Lektüre realisierte ich, in welch privilegierten Verhältnissen ich aufwuchs – in derselben Stadt, aber in so komplett anderen Verhältnissen als Christiane F. in Berlin-Gropiusstadt. Das Glück der Geburt! Dass ein Freund meines Vaters einige der Fotos gemacht hatte, die hinten angefügt waren, machte diese Erfahrung noch nachdrücklicher.

«Narziss und Goldmund» von Hermann Hesse
Mit 15 las ich – wie alle anderen: Hesse. Hesse war Kult, ich habe vor allem «Narziss und Goldmund» verschlungen: die Geschichte über zwei Freunde, die gegensätzlicher kaum sein könnten, aber beide auf der Suche nach dem «richtigen» Leben sind. Sinn und Sinnlichkeit in allen Facetten, Geist und Körper, Gedanken und Gefühle. Diese Themen beschäftigen mich eigentlich noch heute oft. Insofern ist meine Hesse-Phase noch nicht fertig.

«Krieg und Frieden» von Leo Tolstoi
Als Sechzehnjährige hat mir der Vater meiner ersten grossen Liebe für meine Sommerferien «Krieg und Frieden» mitgegeben – um mir meine Zeit zu vertreiben gewissermassen. Eine Lektüre, die einen regelrechten Lese-Marathon auslöste. Es folgten weitere Romane von Tolstoi, dann von Dostojewski – über Monate versank ich in fremden Welten und fernen Zeiten. Seitdem lese ich jeden Sommer einen Klassiker der Weltliteratur.

«Verse für Zeitgenossen» von Mascha Kaléko
Mit knapp 20 entdeckte ich Mascha Kaléko (ich glaube, es war in einem Kurs der Volkshochschule über Displaced Persons – obwohl sie gar keine war). Ihre Gedichte begleiten mich bis heute: «Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur / Doch mit dem Tod der andern muss man leben» (Memento). Kaléko ist eine Meisterin darin, Gefühle zu beschreiben, frei von Kitsch: Liebe, Trost, Einsamkeit, Verzweiflung. Diese Mischung aus Spott, Ironie, tiefer Melancholie und düsterem Ernst ist einzigartig: «Mein schönstes Gedicht / Ich schrieb es nicht. / Aus tiefsten Tiefen stieg es. / Ich schwieg es.»

«Was ich liebte» von Siri Hustvedt
Kurz vor meinem 30. Geburtstag hatte ich ein Vorstellungsgespräch bei der Zeitschrift «du» in Zürich. Ich weiss noch genau, wie ich die Tramhaltestelle verpasste, weil ich so versunken in Siri Hustvedts Roman war. Dass ich zu spät kam, war nicht tragisch – ich glaube, die Ausrede gefiel meinem Chef. Und immerhin kam ich so in die Schweiz.

«Arbeit und Struktur» von Wolfgang Herrndorf
In meinen Dreissigern las ich regelmässig den Blog «Arbeit und Struktur», und zwar auch, weil Wolfgang Herrndorf darin so unpathetisch und nüchtern und auch humorvoll mit dem Sterben umging, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Ende August 2013 sass ich im Tram und las auf Twitter, dass er sich in Berlin das Leben genommen hatte. Mit einem Kopfschuss direkt in seinen Gehirntumor. Diese Bildhaftigkeit hat mich erschüttert. Dass Herrndorf bis zuletzt seine Selbstbestimmung nicht aufgab, hat mich tief beeindruckt.

«Das grosse Heft» von Agota Kristof
Erst mit 45 las ich auf den Hinweis eines guten Freundes diesen wegen seiner kalten, lakonischen und knappen Sprache erschütternden Antikriegsroman. Das Buch erzählt erbarmungslos und radikal die Geschichte von Zwillingsbrüdern, die völlig auf sich allein gestellt überleben lernen müssen. Und es zeigt: Literatur bewegt in jedem Alter anders.

«Kindheit», «Jugend», «Abhängigkeit» von Tove Ditlevsen
In ein paar Jahren könnte ich die Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen in eine Reihe der Bücher stellen, die mich nach der Lektüre als anderen Menschen in die Welt entlassen haben. Drei in der Entzugsklinik geschriebene Bücher über das Leben einer Frau, für die Schreiben alles ist und die sich gleichzeitig aufreibt beim Versuch, sich aus gesellschaftlichen Konventionen zu befreien, und dabei von einer unglücklichen Beziehung in die nächste schlittert. Und das alles in einer modernen, nüchternen, ganz präzisen und zugleich lyrischen, metaphorischen Sprache erzählt – sie war ja auch Lyrikerin –, ohne ein einziges schräges Bild!

«Literaturclub», heute 22.25 Uhr, SRF 1.

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