«Emotionen mit dem Publikum zu teilen – das ist das Grösste»
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Dirigentin Wüstendörfer:«Emotionen mit dem Publikum zu teilen – das ist das Grösste»

Lena-Lisa Wüstendörfer
Klassik, Kind und Karriere

Mit ihrem Taktstock dirigiert sie ein 50-Personen-Orchester. Die neuen Töne im Leben der in Zürich lebenden Dirigentin kommen von Baby Loris.
Publiziert: 10.09.2023 um 14:30 Uhr
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Stardirigentin Lena-Lisa Wüstendörfer mit ihrem Sohn Loris im Zürcher Niederdorf vor ihrem Musizierzimmer.
Foto: Thomas Meier
Interview: Flavia Schlittler, Fotos: Thomas Meier

Sie ist der Shootingstar der klassischen Musik: Lena-Lisa Wüstendörfer (40) ist eine der wenigen Dirigentinnen, die ein Berufsorchester leiten. SonntagsBlick trifft sie in ihrem Musizierzimmer im Zürcher Niederdorf und spricht mit ihr über die bekannten drei K. Früher hiessen die Kinder, Küche und Kirche und standen nach konservativen Wertvorstellungen für die soziale Rolle der Frau. Für die Schweizerin mit deutschen Wurzeln stehen sie heute für Klassik, Karriere und Kind.

Frau Wüstendörfer, Lifestylemagazine reissen sich genauso um Sie wie intellektuelle Journale. Ein Spagat?
Lena-Lisa Wüstendörfer: Ein spannender und auch wichtiger. Ich bin der Überzeugung, klassische Musik ist für alle. Nur viele haben sie für sich noch nicht entdeckt. Oft wird sie in einem Elfenbeinturm gehalten und mit Intellektuellem verbunden – wie wenn man sie verstehen müsste, um sie schön zu finden. Klassik hat überall Platz. So sieht es auch mit dem Schweizer Kulturgut im Bereich der Klassik aus, daran will ich das Publikum teilhaben lassen. Dass ich mit ihr in verschiedensten Medien auf Interesse stosse, finde ich schön.

Die Aufmerksamkeit der Medien bringt wohl auch Neider und Neiderinnen aufs Parkett.
Ich habe dies ehrlich gesagt noch nie mitgekriegt. Ob man Frau oder Mann ist, für andere gut aussieht oder nicht, hat nichts damit zu tun, ob man Erfolg hat oder nicht. Vielleicht gibt es in meinem Fall Leute, die sich daran stören, dass ich Schweizer Komponisten und Komponistinnen ausgrabe oder beim Dirigieren High Heels trage. Man kann es nie allen recht machen. Daher nehme ich es auch nicht persönlich.

Welcher Dirigent hat Sie geprägt?
Zwei Dirigenten und eine Dirigentin. Einerseits Klangmagier Claudio Abbado. Bei ihm durfte ich nach meinem Studium assistieren, gleich mit einem grossen Orchester zusammenarbeiten. Von ihm habe ich gelernt, welch grosse Klangpalette man mit einem Orchester realisieren kann. Der zweite war Sir Roger Norrington, Chefdirigent beim Zürcher Kammerorchester. Er hat mir die Tür zu meinem Tonhallendebüt geöffnet. Und die Bündnerin Sylvia Caduff. Sie war die erste Frau, die in Deutschland Generalmusikdirektorin war. Sie hat ein unglaubliches Wissen im klassischen Standardrepertoire. 

Sie sind eine der wenigen Dirigentinnen eines Berufsorchesters in der Schweiz ...
... und ich hatte noch nie das Gefühl, mehr kämpfen zu müssen, weil ich eine Frau bin. Wenn man sich die Statistik anschaut, sind wir ganz klar unterrepräsentiert. Die Geschlechterfrage habe ich mir während meiner Laufbahn noch nie gestellt. Reagiert eine Person auf mich, weil ich eine Frau bin? Kann sein, muss aber nicht. Ich weiss nicht, wie es gewesen wäre, wenn ich ein Mann wäre. Es ist schlicht eine Frage, die nichts bringt. Ich arbeite sehr inhaltsbezogen. Mein aktuelles Ziel ist, Schweizer Werke aus der Klassik und Romantik wieder aufleben zu lassen. 

Die neue Saison beginnt für Sie am 23. September mit Ihrem Swiss Orchestra in Andermatt. Womit eröffnen Sie? 

Mit der ausgezeichneten Pianistin Magda Amara. Danach gehts mit dem Orchester auf Schweizer Tour unter dem Thema «Spurensuche Schweizer Sinfonik». Eigens für diese Tour wurden alte Originalhandschriften der 1. Sinfonie des Luzerner Komponisten Franz Xaver Schnyder von Wartensee aus dem Archiv neu editiert. Darauf bin ich extrem gespannt – auch auf die Reaktion des Publikums. Bis anhin schlummerte die Sinfonie in der Versenkung der Vergessenheit.

Sie wollen auch Junge ansprechen. Wie wärs mit der Vertonung eines Lady-Gaga-Stücks?
Wir hatten im Juli ein Projekt mit Stephan Eicher. Seine Band war in der Mitte des Orchesters, er stand wie ein klassischer Solist davor. Seine Hits hat das ganze Sinfonieorchester gespielt, sie wurden neu arrangiert. Es hat enorm gut funktioniert. Wir führen dies im November im Casino Bern erneut auf. Und wir arbeiten mit dem Volksmusiker Noldi Alder. Er ist Hackbrettler, Jodler und Geiger. Er hat Stücke für das Streichorchester geschrieben, was eine erfrischende Erfahrung für uns alle war. Das Publikum hat es geliebt. Man darf die Stile nicht zu sehr in Schubladen sehen. Wir sprechen alle Emotionen an, auch wenn wir alte Musik spielen. Man darf nie vergessen, früher waren die Menschen genauso traurig, verzweifelt oder in Partystimmung wie heute. Auch wenn sie anders angezogen waren.

Persönlich: Lena-Lisa Wüstendörfer

Lena-Lisa Wüstendörfer (40) ist promovierte Musikwissenschaftlerin. Die Faszination für klassische Musik entdeckte sie als Kind durch ihre Schweizer Mutter und ihren deutschen Vater, die sie oft an Konzerte mitnahmen. Sie ist Chefdirigentin des Swiss Orchestra und Intendantin von Andermatt Music. Im März kam ihr erstes Kind, Sohn Loris, zur Welt. Er wird sie auf ihrer Tour durch die Schweiz begleiten.

Lena-Lisa Wüstendörfer (40) ist promovierte Musikwissenschaftlerin. Die Faszination für klassische Musik entdeckte sie als Kind durch ihre Schweizer Mutter und ihren deutschen Vater, die sie oft an Konzerte mitnahmen. Sie ist Chefdirigentin des Swiss Orchestra und Intendantin von Andermatt Music. Im März kam ihr erstes Kind, Sohn Loris, zur Welt. Er wird sie auf ihrer Tour durch die Schweiz begleiten.

Welches klassische Stück empfehlen Sie einem «Anfänger»?
Die Oper «Carmen» von Georges Bizet oder Mozarts «Die Entführung aus dem Serail». Auf jeden Fall ersetzt nichts einen Konzertbesuch. Ich vergleiche dies mit einer unbekannten Küche. Was Sie darüber lesen oder hören, ersetzt nie das, was Sie erleben, wenn Sie davon essen. 

Sie sind im März zum ersten Mal Mutter geworden. Über Ihren Sohn Loris haben Sie bisher nicht gesprochen. Woher kommt die Zurückhaltung?
Bei mir ist es wie bei anderen. Ich habe ein Berufs- und ein Privatleben. Mein Sohn ist Teil meines Privatlebens, das muss ich nicht an die grosse Glocke hängen. Es ist enorm schön, und ich bin sehr glücklich mit ihm. Ich entdecke und erfahre täglich Neues.

Im letzten Interview mit uns haben Sie erzählt, dass Sie am liebsten Schnee hören. Wie klingt Loris in Ihren Ohren?
Etwas vom Schönsten ist, wenn er im Schlaf lacht. Man ist ja schon zufrieden, wenn das Kind gut schläft. Wenn es dann noch lacht, ist es einfach herrlich. Und er hat sehr gerne jede Art von klassischer Musik, da hört er ruhig und aufmerksam zu. 

Begleitet er Sie auf Ihrer Tour?
Ja. In unserem aus rund 50 Personen bestehenden Berufsorchester sind alle so zwischen 25 und 45 Jahre alt. Viele haben Kinder, die sie begleiten. Wir sind in der Betreuung der Kleinen sehr gut organisiert. Wir sind Berufsmusiker und -musikerinnen, viele davon mit Kind. Für uns ist das ein natürliches Miteinander.

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