Wer nicht mitrennt, geht unter
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Joggen mit Vincent Gross
Wer nicht mitrennt, geht unter

Wir waren mit ­ Vincent Gross (24) joggen. Der Basler ist einer der vielversprechendsten Schlagerstars. Wenn nur dieses Coronavirus nicht wäre! Doch wer der Welt nicht konstant entgegenlacht, hat in seiner Branche verloren.
Publiziert: 22.08.2020 um 13:59 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2020 um 17:04 Uhr
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Vincent Gross (r.) wird von Redaktor Jonas Dreyfus beim Joggen am Ufer des Flusses Wiese interviewt.
Foto: Thomas Meier
Jonas Dreyfus

Er hat sie drauf – die grossen Gesten. Wenn Vincent Gross spricht, wirkt er manchmal wie ein Zauberer, der sein Publikum in den Bann ziehen will. Anstelle eines Stabs verwendet er seine Hände, fährt mit dem Zeigefinger einem imaginären Horizont entlang und lässt seinen Blick theatralisch in die Ferne schweifen.

Auf der Bühne animiert er so die hinteren Ränge zum Mitklatschen. An den Schlagernächten, an denen Gross bis vor kurzem noch auftrat, muss er das Energielevel des Stars aufrechterhalten, der vor ihm an der Reihe war. Sonst gehen die Leute Bier holen. Das klingt nach einem Chrampf. Gross nennt es lieber: «eine Herausforderung».

Wir treffen den 24-jährigen Basler, der genauso rein Dialekt wie Hochdeutsch spricht, auf seiner Jogging­route am Ufer der Wiese – ein Nebenfluss des Rheins, um eine Runde mit ihm zu rennen. Er trägt ein Outfit, das noch knapp als sportlich durchgeht – bestehend aus einem glänzenden Stretch-­ T-Shirt und einer uniformartigen Gummizughose. Sein linkes Handgelenk ist geschient – die Folge eines Longboard-Unfalls. Die futuristischen Sneakers hat er von seinem älteren Bruder stibitzt. «Er ist mein modisches Vorbild.»

Kampfsport war seine Lebensschule

Hier habe er bereits seine Aufwärmrunde gemacht, als er noch am Gymnasium Bäumlihof die Sportklasse besuchte, sagt Gross, während unter seinen Füssen der Kies knirscht. «Bis an die deutsche Grenze, dann kehren und wieder zurück.»

Das olympisch an­erkannte Taekwondo war seine Disziplin. Beim koreanischen Kampfsport traktiert man den Gegner mit Kicks gegen Bauch und Kopf. Ausserhalb von Wettkämpfen habe er die Selbstverteidigungstechnik zum Glück noch nie anwenden müssen, sagt Gross. Die Sprünge, die er auf der Bühne zeigt, hat er dank ihr gelernt. Plus: «Höflichkeit, Respekt und Durchhaltevermögen.» Taekwondo sei seine Lebensschule gewesen. «Bevor ich es vor sechs Jahren für die Musik aufgab, durfte ich sogar einmal Schweizer Meister werden.»

«Dürfen» ist eines seiner Lieblingsverben – auch wenn eigentlich klar ist, wer ihm zum Beispiel erlaubt hat, als 18-Jähriger die SRF-Talentshow «Hello Again!» gewinnen zu «dürfen»: Er selbst. Respektive sein musikalisches Talent. Damals stand er noch schüchtern mit seiner Gitarre auf der Bühne und «durfte» «Ohne Dich (Schlaf ich heut Nacht nicht ein!)» von Münchener Freiheit interpretieren. Heute «darf» er vor mehr als einer Mil­lion Menschen an der Silvesterfeier in Berlin vor dem Brandenburger Tor mit eigenen Songs auftreten.

Acht Wochen auf Platz 1 der Charts

Einer dieser Songs, «Über uns die Sonne», stand gerade acht Wochen lang auf Platz 1 der deutschen ­Radio-Schlagercharts. Wenn von Donnerstag auf Freitag die neuen Ergebnisse publiziert werden, sei er um Mitternacht fieberhaft vor dem Computer gesessen, um zu sehen, ob es nochmals für einen Top-Platz gereicht habe, sagt Gross. «Das war mein Lichtblick in dieser schwierigen Zeit.»

Rund 80 geplante Auftritte fielen wegen Corona ins Wasser – fast alle hätten in Deutschland stattgefunden. Wer mit Schlager erfolgreich sein will, schafft es am besten erst einmal dort. Die Schweiz zieht oft automatisch nach. Beatrice Egli hat es vorgemacht: Die 32-jährige Schwyzerin startete ihre Karriere mit der Fernsehshow «Deutschland sucht den Superstar». Heute ist ­ sie, gemessen an Nummer-1-Alben, in den CH-Charts die erfolgreichste Schweizer Künstlerin der Geschichte.

Konzerte vor Tontechnikern

Gross ist Doppelbürger – seine Eltern stammen aus Norddeutschland, er kam in der Schweiz zur Welt. Dank seines deutschen Passes konnte er während des Lockdowns wenigstens zu den deutschen TV-Shows reisen, die trotz Corona stattfanden. Allerdings ohne Publikum.

Das sei schon ein komisches Gefühl gewesen, bei «Immer wieder sonntags» im Europa-Park Rust oder beim «ZDF-Fernsehgarten» nur vor Kameramännern und Tontechnikern zu singen, sagt Gross. «Vor allem, wenn ab Band ein mörderischer Stadiums-Applaus eingespielt wurde.» Oder das Autokonzert in Bad Kreuznach, Rheinland-Pfalz, bei dem er neben Schlagerstar Mi­chelle auftrat. Es habe Spass gemacht, sei mit einem «normalen» Konzert jedoch nicht vergleichbar gewesen. Die Zuschauer hörten ihn über ihre Autoradios, er sich selbst via Kopfhörer.

Beim Schlager gehts ums Anfassen

Wahrscheinlich trifft Corona keine Musikrichtung so hart wie den Schlager. Nahbarkeit ist hier alles. Die Stars geben eine Autogrammstunde nach der anderen, treten tagelang auf Kreuzfahrtschiffen auf, posieren mit ihren Fans für Fotos, gehen bei Auftritten durchs Publikum, klatschen ab, schütteln Hände. Zu Gross’ Konzerten wird das Teenager-Mädchen freiwillig von seiner Mutter begleitet. Die Grossmutter hätte ihn gerne als Schwiegersohn. Sogar die kleine Schwester darf mit und bewegt sich zu den Songs, wie sie das von den Kinderliedern aus der Spielgruppe kennt.

Das kollektive Erlebnis eines Konzertes mit guter Stimmung steht im Vordergrund. Allein schon der Umstand, dass Schlager eine der letzten Sparten markiert, in der CD-Verkäufe weit mehr Geld einspielen als Streamings, zeigt: Hier gehts ums Physische. Ums Anfassen.

Zu Beginn des Lockdowns vertröstete Gross seine Fans noch mit Gratiskonzerten, die er im Haus seiner Eltern in Basel aufnahm, wo er wohnt, und in seine Social-Media-Kanäle stellte. Das Können, das er sich beim Filmen und Schneiden von Promo-Videos aneignete, kam auch seinem Vater zugute, Diakon einer katholischen Kirche in Baselland. Für ihn nahm er während der Zeit, als Kirchenbesuche nicht erlaubt waren, einen Gottesdienst auf Video auf.

Vom Unterbewussten zum Oberflächlichen

Gross’ Eltern sind beides Theologen. Er bezeichnet sich selbst als religiös. Das passt zur fast schon ­stoischen Freundlichkeit, mit der Gross bei 25 Grad joggend Fragen beantwortet. Nein, dass nichts mehr so werde wie vor Corona, glaube er nicht, sagt er lächelnd und rückt sich mit einer schnellen Handbewegung den Seitenscheitel zurecht. «Ich würde mal optimistisch bleiben.» Im Schlager wird Negatives knallhart ausgeklammert – wenn Gross das nicht könnte, hätte er sein Psychologiestu­dium nicht für eine Welt aufgegeben, die das Oberflächliche zelebriert.

«Wer an eines meiner Konzerte kommt, geht mit einem Lächeln im Gesicht nach Hause», sagt Gross. Er spricht oft in Slogans, die an Videogrussbotschaften erinnern, und versucht seine neue Single «Chill Out Time» so oft wie möglich in Sätzen unterzubringen. Fragen, die er nicht abschliessend beantworten kann, weicht er aus. Ein junger Mann, der karrieremässig alles richtig machen will. Bis jetzt ist ihm das geglückt.

Hündchen Britney bellt sich heiser

Nach dem Joggen sitzen wir im Aussenbereich des Restaurants, das zum Tierpark Lange Erlen gehört. Gross’ Managerin Astrid van der Haegen, ein Urgestein der Schweizer Musikbranche, ist auch dabei. Die beiden scheinen eine symbiotische Beziehung zu pflegen, wechseln sich am Steuer ab, wenn sie zu Auftritten fahren. Alles, was in acht Stunden erreichbar ist, wird mit dem Auto gemacht. Das ist die Regel.

Sie bestellt einen Tomaten-Mozzarella-Salat. Er auch. Wenn sie die Gesprächsrunde kurz verlässt, bellt Britney ihr nach – und damit jede Unterhaltung nieder. Britney ist ein winziger Toy-Pudel, dessen Stirnfransen zu kleinen Zöpfchen geflochten sind. Gross hat ihn ausgesucht und getauft. Weil Prominente wie Paris Hilton oftmals kleine Hunde besitzen, habe er ihm erst recht einen «Tussi-Namen» gegeben, sagt er. Britney gehört beiden, wohnt aber bei ihr.

Valentin war kein guter ­Tarnname

Gross erzählt, wie alles angefangen hat mir der Musik. Wie sich seine Mutter immer die TV-Shows mit Moderator und Sänger Florian Silbereisen ansah und ihren Sohn so für den Schlager begeisterte. Wie er das Instrument Laute lernte. Wie er mit 15 unter dem Pseudonym Valentin Gross begann, Videos auf Youtube zu stellen, in denen er englischsprachige Songs mit Gitarre zum Besten gab.

Er sei zu schüchtern gewesen, um sie seinen Freunden vorzuspielen, sagt er. Deshalb auch das Pseudonym Valentin, das allerdings keine gute Tarnung versprach. «Es ist mein zweiter Vorname.» Die Videos machten die Runde und führten dazu, dass Gross mit 17 Jahren beim Swiss Talent Award von «Das Zelt» mitmachen konnte und es bis ins Finale schaffte.

Ein Jahr nach dem Erfolg mit der SRF-Talentshow «Hello Again!» unterschrieb er mit 19 beim Major-Label Sony – der Traum jedes aufstrebenden Schlagerstars. Jetzt lernte er die ersten Stars des Business kennen, trat im Vorprogramm von Maite Kelly auf, die nach ihrem Ausstieg bei der Kelly Family eine erfolgreiche Solokarriere startete.

Er darf Kaisers «Joana» singen

Gross wird sogar von Roland Kaiser gefördert, der neben Matthias Reim, Howard Carpendale oder Michelle zur alten Garde gehört. Fördern – das heisst in diesem Fall, dass ihn Kaiser einmal bei einer Fernsehshow am Mikrofon ankündigte und ihm erlaubte, eine Cover-Version seines Überhits ­«Joana» zu veröffentlichen. Natürlich nicht, ohne dass sich Vincent Gross darum bemüht hätte, indem er ein Konzert Kaisers in Dresden (D) besuchte, um sich ihm persönlich vorstellen zu lassen. Networking sei sehr wichtig in dieser Branche. «Man muss sich bemühen.»

Wie gut Gross in dieser Welt ankommt, lässt sich allein schon an der Art erahnen, wie er mit den Menschen umgeht, die an diesem Tag seinen Weg kreuzen: Die Frau, die versehentlich vor die Kamera des Fotografen läuft und sich dafür entschuldigt. Die Kellnerin, die erst nach mehrmaligem Nachfragen am Tisch erscheint und sich erklärt. Andere Stars würden solche Unannehmlichkeiten bestenfalls ignorieren, Gross geht jedes Mal darauf ein.

«Kein Problem», sagt er dann und strahlt. Wer sich Videos von seinen Auftritten ansieht, glaubt zu erkennen, wie er beim Applaus über ­ sich selbst staunt und immerwieder «Wahnsinn!», «Wahnsinn!», «Wahnsinn!» zu sich sagt. Keine Spur von Abgeklärtheit ist hier zu erkennen, nichts an ihm wirkt berechnend, alles an ihm bejahend.

Ballermann? Eher weniger

Nur bei Anspielungen auf den Alkoholkonsum bei Schlager-Events relativiert Gross. Saufende Gäste – das betreffe hauptsächlich den Mallorca- sprich Malle-Schlager. «Nicht, dass ich etwas gegen ihn hätte – ich bin auch schon mit Mickie Krause aufgetreten.» Doch es handle sich um eine andere Sparte als diejenige, in der er sich bewege, mit eigenen Events, eigenen Stars. Dasselbe gelte für den volkstümlichen Schlager im Stil der Band Calimeros, in dem Liebe und Herzschmerz im Zentrum stünden.

Seine Schiene ist die des zeitgemässen Popschlagers, auch als «neuer Schlager» bekannt. Superstar Helene Fischer hat diesen Stil mit ihrem Hit «Atemlos durch die Nacht» aus dem Jahr 2013 gross und einem jüngeren Publikum zugänglich gemacht.

In Gross’ Songs geht es schon auch um die Liebe – doch mehr um die Euphorie des ersten Kennenlernens –, auch wenn er selbst im Moment Single ist. Partytauglich ist sein Sound auch, orientiert sich aber mehr am Techno-Club als am Ballermann.

Für sein neustes Album «Hautnah», das kommenden Januar erscheint, arbeitete Gross, der seit kurzem bei einem Münchner Schlagerlabel unter Vertrag steht, mit einem schwedischen Produzenten zusammen. Das skandinavische Land ist bekannt für seine euphorisch-kitschige Dance-Musik. Er habe sich eine treffende Bezeichnung für seinen neuen Sound ausgedacht, sagt Gross: «Swedish House Schlager.»

Weiss vs. Gross

Gibt es Dinge in seiner Karriere, an die er sich nicht gerne zurückerinnert? Gross muss lange überlegen. Ja, einen seiner ersten Auftritte hätte er am liebsten schnell wieder vergessen, sagt er. Der fand an einem Dorffest an der Ostsee statt. Der Moderator kündigte ihn fälschlicherweise mit dem Namen eines anderen deutschen Popstars an. «Meine Damen und Herren, hier kommt Wincent Weiss», rief er ins Mikrofon. Gross: «Ich geriet so aus dem Konzept, dass ich mich nicht einmal mehr an den Text meines einfachsten Songs «Du Du Du» erinnern konnte.»

Und was macht er, wenn ihm mal alles zu viel wird? «Schlafen», sagt Gross. Viel Gelegenheit hat er dazu normalerweise nicht. Musiker zu sein – das fühle sich an, wie wenn man in entgegengesetzter Richtung auf einer Rolltreppe renne. «Sobald du langsamer wirst, fährst du nach unten.» Das klingt nach einem Chrampf. Gross nennt es lieber: «eine Herausforderung».

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