«Mani Matter ist immer noch ein Inspirationsfeuerwerk»
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Mani-Matter-Biograf schwärmt:«Mani Matter ist immer noch ein Inspirationsfeuerwerk»

Interview mit Stephan Eicher
«Hemmungen sind ein sehr schweizerisches Gefühl»

Stephan Eicher (62) machte Mani Matter in Frankreich bekannt. Bis heute entdeckt er den Berner Troubadour immer wieder neu. Eicher sieht viele Schweizer Musiker in Matters Fussstapfen – fürchtet aber auch, dass einige seiner Lieder der Zensur zum Opfer fallen könnten.
Publiziert: 24.11.2022 um 06:55 Uhr
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Aktualisiert: 24.11.2022 um 10:19 Uhr
Interview: Daniel Arnet

S'git Lüt die würden alletwäge nie
Es Lied vorsinge so win ig jitz hie
Eis singen um kei Prys nei bhüetis nei
Wil si Hemmige hei
(Mani Matter: «Hemmige»)

Herr Eicher, wann hatten Sie zuletzt Hemmungen?
Stephan Eicher:
Heute Morgen, als mich jemand auf der Strasse fragte, ob ich Stephan Eicher sei. Darauf sagte ich den blöden Satz: «Syt dr vor Polizei?»

Hemmungslos

Stephan Eicher kommt 1960 in Münchenbuchsee BE zur Welt und wächst dort mit zwei Brüdern auf. Mit Martin gründet er 1980 die Neue-Deutsche-Welle-Band Grauzone, die mit dem Song «Eisbär» einen Hit in den deutschsprachigen Ländern landet. Nach der Auflösung von Grauzone im Jahr 1982 prägen Chansons Stephan Eichers Solokarriere. Er singt aber nicht nur auf Französisch, sondern auch auf Englisch und Berndeutsch. 1992 startet er mit Kuno Lauener zum «Alpenflug» für das Tribut-Album «Matter Rock» und landet mit dem Mani-Matter-Cover «Hemmige» in der Hitparade. 2020 bekommt Eicher im Rahmen der Swiss Music Awards den Outstanding Achievement Award für seine Leistung für die Schweizer Musikszene, 2021 den Schweizer Grand Prix Musik vom Bundesamt für Kultur.

«Es stört mich nicht, wenn ich rot werde», sagt Stephan Eicher.
Thomas Meier

Stephan Eicher kommt 1960 in Münchenbuchsee BE zur Welt und wächst dort mit zwei Brüdern auf. Mit Martin gründet er 1980 die Neue-Deutsche-Welle-Band Grauzone, die mit dem Song «Eisbär» einen Hit in den deutschsprachigen Ländern landet. Nach der Auflösung von Grauzone im Jahr 1982 prägen Chansons Stephan Eichers Solokarriere. Er singt aber nicht nur auf Französisch, sondern auch auf Englisch und Berndeutsch. 1992 startet er mit Kuno Lauener zum «Alpenflug» für das Tribut-Album «Matter Rock» und landet mit dem Mani-Matter-Cover «Hemmige» in der Hitparade. 2020 bekommt Eicher im Rahmen der Swiss Music Awards den Outstanding Achievement Award für seine Leistung für die Schweizer Musikszene, 2021 den Schweizer Grand Prix Musik vom Bundesamt für Kultur.

Sind Hemmungen ein gutes oder ein schlechtes Gefühl?
Ein gutes! Es stört mich nicht, wenn ich rot werde. Das ist für mich vielmehr der Beweis: Hier hat mich etwas im Innersten berührt. Hemmungen sind auch ein sehr schweizerisches Gefühl.

Angeboren oder anerzogen?
Ich weiss nicht, ob sie in unserer DNA sind oder anerzogen durch Hunderte Jahre Religion und Moral. Aber wenn man auf die Welt schaut, sollten wir mehr Hemmungen haben.

Trotzdem zeigen Sie weniger Hemmungen als manche, denn seit 30 Jahren singen Sie auf den Bühnen die Mani-Matter-Zeilen: «S'git Lüt, die würden alletwäge nie / Es Lied vorsinge, so win ig jitz hie.»
Ist das schon 30 Jahre her?

Ja, 1992 stürmten Sie mit Ihrer Cover-Version von «Hemmige» die Schweizer Charts …
… auch in Frankreich wurde das Lied ein Hit.

Ich erinnere mich an ein Konzert von Ihnen in Paris Mitte der 1990er-Jahre: Das französische Publikum sang den schweizerdeutschen Text astrein mit!
Als das zum ersten Mal bei einem Konzert in Frankreich passierte, fiel ich aus dem Tritt und dachte: Was machen die da? Ich hielt inne und hörte zu. Das Tolle ist, dass auch Französinnen und Franzosen wissen, worum es im Text geht.

Wie kamen Sie dazu, «Hemmige» zu covern?
Zu gewissen Zeiten im Leben kümmert man sich um seine Identität – vor allem, wenn man erwachsen wird, das verschwindet dann mehr und mehr mit dem Alter. Damals entdeckte ich meine berndeutschen Wurzeln und begann Dialekt zu singen.

Zunächst 1989 die Schweizer Volkshymne «Guggisberglied» …
… und danach kam ich auf Matter – angeregt durch Kuno Lauener, der auf jedem Züri-West-Album einen Matter-Song coverte. Er ist der Vorreiter bei der Wiederentdeckung von Matter.

«Kuno Lauener ist der Vorreiter bei der Wiederentdeckung von Matter.»

Zur gleichen Zeit wie «Hemmige» haben Sie mit ihm 1992 «Dr Alpeflug» eingespielt. Mit Lauener Matter zu singen, war für Sie ein Herzensanliegen: Weshalb?
An Kuno bewundere ich die coole Reduziertheit, das Fettlose, Magere, um nicht zu sagen Ultraschlanke seiner Songs. Ich bin ein bisschen das Gegenteil: Bei mir braucht es immer noch Schlagrahm obendrauf oder eine Kirsche, die über den Tisch rollt.

Rahm gehört auch zur feinen französischen Küche. Erklärt das Ihren Erfolg im westlichen Nachbarland?
Paradoxerweise ebneten wohl eher Matters schlicht-schlanke Lieder meinen Weg zum Erfolg in Frankreich – das ist mir bei längerer Auseinandersetzung mit ihm immer bewusster geworden.

Das müssen Sie erklären!
Mani Matter, selber ein grosser Fan des französischen Chansonniers Georges Brassens, ist der Brassens der Schweiz. Alle Berner Troubadours waren von Brassens beeinflusst. Das öffnete mir natürlich Tür und Tor in Frankreich.

… und Sie lebten zwölf Jahre in der Nähe der südfranzösischen Stadt Sète, wo Brassens zur Welt kam …
Genau, er wuchs dort mit der jenischen Kultur auf – seine Musik war vom Gipsy-Sound beeinflusst: Brassens hat den in seinen Chansons einfach verlangsamt.

Da schliesst sich geradezu ein Kreis, denn das Jenische gehört ebenso zu Ihrer Identität wie das Berndeutsche.
Viele Fährten auszulegen, entspricht mir sehr. Ich finde es sehr schwierig, wenn man mit Identität nur etwas Einzelnes meint – man ist ja immer ganz viel. In «Hemmige» sind so gesehen viele Facetten meiner DNA enthalten.

Wann haben Sie zum ersten Mal Mani Matter gehört?
Meine Mutter war Fan seiner Musik und brachte einmal ein Album nach Hause – das war ein Ufo in unserer Sammlung, das gab es sonst nicht. Ein Riesenhit, kaum vorstellbar heute.

Welche Matter-Lieder faszinierten Sie damals am meisten?
«Ds Lotti schilet» und «Dr Hansjakobli und ds Babettli» – mit diesen Liedern konnte ich mich identifizieren. Lumpenliedchen wie «Dr Ferdinand isch gschtorbe» faszinierte mich auch. «Hemmige» war für mich damals noch zu komplex.

«Heute wüsste jeder, wo er stand, als er aufs Handy mit der Push-Meldung zu Matters Unfall starrte.»

Sie waren zwölf Jahre alt, als Mani Matter bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Erinnern Sie sich noch, als Sie von der Todesnachricht hörten?
Nein, nicht wirklich – das wäre heute vermutlich anders. Im Internet-Zeitalter würden wir alle gleichzeitig mit einer Push-Meldung informiert und jeder wüsste, wo er stand, als er aufs Handy starrte.

Matter ist nun schon länger tot, als er lebte – er starb vor 50 Jahren mit 36. Und trotzdem reden wir heute noch über ihn. Was macht ihn so langlebig?
Es ist die Qualität seiner Lieder: Sie sind melodiös, und das Storytelling stimmt. Man kann sie einfach lernen, sie bleiben einem im Kopf, das sind Ohrwürmer. Und weil es nicht viele davon gibt, sind die paar Lieder so wertvoll.

Sie haben schon wesentlich mehr Lieder komponiert als Matter. Sind die deshalb weniger wertvoll?
Bei mir muss jedes neue Lied mit denen kämpfen, die bereits eine Position haben. Und ich stelle mir zuweilen die Frage: Braucht es noch mehr neue Lieder von mir?

Ist Mani Matter für Sie eine qualitative Messlatte?
Ich habe ja mit Martin Suter und Philippe Djian tolle Texter. Aber manchmal, wenn ich die Tiefe der Lieder von Mani Matter betrachte, dann sage ich: «Giele, wir müssen uns noch ein bisschen anstrengen.»

Was macht einen Matter-Song aus?
Matter ist wie ein Geruch, der Erinnerungen hervorruft. Es gibt den Geruch, bei dem man denkt: Jetzt wird es bald Winter, nun kommt Schnee. Dann erinnere ich mich an das Matter-Lied «Warum syt dr so truurig?». Mani Matter ist ein Genie, der zu allem ein passendes Lied schrieb. Ich habe seine Brisanz wieder neu erfahren.

Wann denn?
Seit ich bei Roman Nowka's Hot 3 mitspiele – aus einem traurigen Grund, denn ich ersetze dort Endo Anaconda, der die Matter-Texte quasi vorlas. Ich singe sie im zweiten Teil der Show mit.

«Giele, wir müssen uns noch ein bisschen anstrengen.»
Foto: Thomas Meier

Im ersten Teil interpretiert der Bieler Gitarrist Nowka Mani Matter instrumental.
Genau, und dann merkt man, dass Matter nicht nur ein ausgezeichneter Lyriker, sondern auch ein hervorragender Komponist ist. In «Ds Lied vo de Bahnhöf» spürt man förmlich, wie die Züge vorbeirauschen – und das schafft Matter nur mit der Gitarre. Oder im «Eskimo», wo er ganz fein das Fortissimo anstimmt.

Ist Mani Matter ein unterschätzter Komponist?
In Schulklassen hört man immer wieder, wie singbar Matter ist – seine Lieder sind sehr melodiös. Und Nowka interpretiert das mit seiner Surfgitarre wie in einem Tarantino-Film. Matter und Tarantino: Das ist kein Gegensatz.

Gibt es heute einen Matter-Nachfolger?
Kuno Lauener hat seine Wurzeln sicher bei Matter. Und Stiller Has haben mit «Znüni näh» fast ein Matter-Lied geschaffen. Selbst Rapper reiben sich heute an Matter – es ist schön, wenn diese Sachen so lange aktuell bleiben.

Steht David Bucher von Dabu Fantastic in Matters Fussstapfen?
Dabu Fantastic sind absolut in der Tradition von Matter zu sehen. «Miin Ort» ist ein Chanson wie von Matter. Ja, vielleicht ist David «Dabu» Bucher heute noch näher an Matter, als Kuno es damals war.

Hat die Nähe damit zu tun, dass David Bucher Lehrer war?
Er war Lehrer? Ich habe das Seminar nach einem halben Jahr abgebrochen …

Er unterrichtete auf der Primarstufe Religion und Musik – das passt doch zu Matter-Liedern.
Stimmt, sie haben etwas von Gotthelf: In seinen Geschichten glaubt der Pfarrer irgendwann nicht mehr so an den lieben Gott, der Arzt fällt auch ab, aber beim Lehrer läuft alles zusammen. Zudem sieht er in den Verfilmungen meist unverschämt gut aus.

So wie Dabu.
Genau. Wir haben da psychologisch viel über die Schweiz herausgefunden: Der Lehrer ist bei Gotthelf der, der die Ruhe in die Sache bringt und erklärt – so wie Mani Matter.

«Dabu Fantastic sind absolut in der Tradition von Matter zu sehen.»
Foto: Andrea Camen

Wenn Matter heute noch lebte, was sagten Sie ihm?
Ich würde hoffen, dass ich mit ihm ein wenig befreundet wäre und dass er mich zu sich nach Hause einladen würde, irgendeinen Fleischvogel kochte und Geschichten erzählte.

Würden Sie mit ihm nicht über Texte sprechen oder gar musizieren?
Ich würde mit Büne, Kuno, Dabu und Heidi Happy dort sitzen, zuhören und lächeln – das wärs!

Würde er sich zu aktuellen Problemen äussern?
Nein, da war er zu intelligent, um den Scheinwerfer darauf zu richten, wohin eh schon alle schauen. Er würde die dunklen Ecken ausleuchten. Er war kein Twitter-Account, bei dem man sofort ausruft: «Der hat recht!» Man musste bei Matter zuerst nachdenken, um dann zu sagen: «Genau, der hat eigentlich recht.»

Also keine Aussage zum Klimaschutz oder Ukraine-Krieg?
Obwohl seine Lieder um 1968 entstanden sind, beleuchtet er darin nicht direkt die Studentenrevolte. Darum hat er auch bis heute überlebt, weil er über das Tagesgeschehen hinaus dachte. Und «Dr Noah» ist sein Kommentar zur Klimakrise, bevor die im öffentlichen Diskurs war.

Wo lebt für Sie Mani Matter heute weiter?
Jedes Mal, wenn ich Mani Matter spiele oder ihn höre, dann lebt er. Wenn allerdings die Idee weiter Fuss fasst, dass man Wörter nicht mehr sagen darf, die Leute verletzen könnten, dann können wir Mani Matter bald nicht mehr singen.

Wie meinen Sie das?
«S'chäm es hübsches Meiteli derhär, jitz luege mir doch höchstens chly uf d'Bei wil mir Hemmige hei», ist wohl bald nicht mehr möglich – ich spüre es kommen. Und «S'Lotti schilet» ist Blossstellung von Handicapierten.

Ihre Konsequenz?
Wenn man Mani Matter nicht mehr spielen dürfte, dann müsste ich sagen: Das ist nicht mein Team! Gibt es ein anderes, mit dem ich Fussball spielen kann?

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