Fabienne Hadorn (49) ist auf dem Sprung. Bald geht ihr Zug in Zürich Richtung Berner Oberland. Dort spielt sie während des Sommers im Freilichttheater Ballenberg im Stück «Bärner Gringe» die Hauptrolle «Rötele». Doch zuvor muss sie noch ihr obligates Müesli zubereiten, ohne das die Schauspielerin seit Jahren nicht aus dem Haus geht. Magerquark, verdünnt mit Orangensaft, dazu Flocken und Früchte. «Ich übergiesse es mit Fruchtzucker bis zum Gehtnichtmehr.» 15 bis 20 Minuten dauert's «jeden Morgen, das ist mein ADHS-Fokus-Ritual», erklärt Hadorn, die erst vergangenen Februar offiziell das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom diagnostiziert bekam. «Das Müesli ist aufwendig, aber hilft mir, in den Tag reinzukommen.»
Entschleunigend in ihrem oft vollgepackten Künstlerinnenleben, in dem die Regisseurin in der Stadt mit ihrem Cargo-E-Bike herumdüst, wirkt mittlerweile auch die Zugreise auf den Ballenberg – im positiven Sinne. «Es ist für mich schon fast Wellness. Von Zürich nach Brienz zu fahren, ist ein weiteres Ritual für mich geworden.» Zudem ist sie froh, dass sie nun «nur» noch Ballenberg spielen darf. «In den Wochen davor, mit all den Proben hatte ich noch 1000 andere Sachen zu tun.» Denn Hadorn ist ein künstlerischer Tausendsassa, als Regisseurin, Kabarettistin, Sängerin und Tänzerin aktiv. Bis vor kurzem war sie für die SRF-Satireshow «Die Sendung des Monats» eingespannt, die nun in die Sommerpause geht, und mit ihrem Soloprogramm «KABOOM ROOM» unterwegs.
Anfrage überraschte sie
Für die im Säuliamt geborene und aufgewachsene Wahlzürcherin macht es durchaus «ein bisschen Sinn», dass sie für diese Saison beim Freilichttheater Ballenberg gelandet ist, auch wenn sie von der Anfrage anfänglich überrascht war. «Wir Hadorns sind ja ein Berner Geschlecht. Mein Heimatort ist Forst-Längenbühl bei Thun. Meine Neffen waren einst dort, der Friedhof ist belegt mit Hadorns», erzählt die frühere «Tatort»-Schauspielerin. Ihre Verwandten waren einst von Bern ins Freiamt im Aargau abgewandert. Aber abgesehen von den familiären Verbindungen ins Berner Oberland merkte Fabienne Hadorn schon bei der Anfrage, «dass irgendetwas in mir drin einfach nicht Nein sagen kann.»
Ihre Figur «Rötele» ist eine Magd, die nicht aus dem Dorf flüchtet, stoisch bleibt, allen Widersachern trotzt. «Ich denke oft: Wieso geht Rötele nicht einfach?» Auch weil die Geschichte auf einer wahren Biographie beruht und Hadorn solche Figuren aus ihrer eigenen Familiengeschichte kennt, ist sie davon berührt. «Die Frauen aus meiner Verwandtschaft sind wie sie und haben alles durchgestiert. Meine Grossmütter hatten ein so hartes Schicksal. Sie haben den Karren bis zum Schluss gezogen.» Emma, die Grossmutter väterlicherseits, war Aufschlägerin in der Strohindustrie, später Putzfrau, und hat die Kinder alleine durchgebracht. Marta, mütterlicherseits, war schwerhörig, führte eine Käserei. Beiden war der Mann – wie auch der ihrer Figur – früh verstorben. «Mit unglaublicher Kraft, Liebe und viel Arbeit haben sie ihre Kinder durchbringen müssen. Eigentlich ist das Stück eine feministische Erzählung, jedoch folkloristisch verkleidet.»
Auch das Dorfleben prägt «Bärner Gringe». Hadorn ist in Affoltern am Albis ZH «easy peasy» mit einem Bruder und als Tochter zweier Kaufleute aufgewachsen. «Aber mit 16 bin ich aus dem Ort geflüchtet, habe alle Bande zerschnitten, ausser jene zu meiner Familie.» Mittlerweile wohnt sie im Zürcher Kreis 4 in einer Genossenschaftssiedlung. Vom Vater ihrer beiden Töchter (17 und 14) lebt sie getrennt, aber in unmittelbarer Nähe. Durch das familiäre Quartier und ihre Künstlergemeinschaft kann Fabienne Hadorn in ihrem Leben aber auf ein halbes Dorf zählen. «Alleine hätte ich vieles nicht geschafft», sagt sie. «Ich merke jetzt immer wieder, wenn ich etwas alleine versuche zu stemmen, dass es auseinanderfällt. Ich bin mega froh um meine Kinder, die sind mir eine unglaubliche Stütze.» Die ältere Tochter Irma zieht es sogar mit ihr auf den Ballenberg. «Sie hilft dort in der Gastronomie, macht den Kiosk und während der Vorstellungen auch noch etwas Licht», erzählt die zweifache Mutter stolz. «Dabei hatte ich Bedenken, dass ich durch das Engagement beide weniger sehe.»
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Ihr Partner und sie ergänzen sich gut
Ihr Partner, der in der Ostschweiz lebt, ist ihr ebenfalls eine Stütze. «Er ist ein Sonderling, aber ich kann mich auf ihn verlassen. Er ist leicht autistisch, was mit meinem ADHS wirklich sehr gut funktioniert.» Ihre kürzlich erhaltene Diagnose hat bei ihr zwar kurzzeitig eine Identitätskrise ausgelöst – «ich stellte mir die Frage, wer ich bin und was davon ADHS ist» –, hat aber grundsätzlich nichts an ihrem Leben geändert. «Ich dachte einfach all die Jahre, dass ich eine verrückte Nudel bin und habe gelernt, Leute zu kopieren, um selbst nicht aufzufallen. Das kommt mir als Schauspielerin natürlich zugute», sagt sie. «Aber sowieso bin ich keine Hättehätte-Fahrradkette-Person.»
Das Müesli ist nun fertig, die Zugabfahrt rückt näher. Sie freut sich, aufs Land und auf den Ballenberg zu fahren. «Der Regisseur ist toll, die Laien bezaubernd, die Kulisse wie im 3D-Kino und alles sehr poetisch. Ich bin dort einfach nie gelangweilt», schwärmt Hadorn. Und das will bei einer Person, die ständig drei Dinge aufs Mal macht, was heissen.
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