Fotografin Liva Tresch dokumentierte schwul-lesbische Treffen der 60er und 70er
«Ich wollte mich im Urnersee ertränken»

Sie mussten sich verstecken und trafen sich hinter dunklen Vorhängen von Bars. Dort konnten sich Lesben und Schwule so geben, wie sie wollten. Diskretion war oberstes Gebot, Fotografen unerwünscht – ausser Liva Tresch.
Publiziert: 05.09.2021 um 00:54 Uhr
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Aktualisiert: 05.09.2021 um 17:50 Uhr
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Liva Tresch fotografierte während der Sechziger- und Siebzigerjahre zahlreiche Veranstaltungen der Lesben- und Schwulenszene. Diese fanden unter höchster Diskretion statt.
Foto: Corinne Rufli
Michel Imhof

Liva Tresch (88) wusste selber lange nicht, was ihre Gefühle für Frauen bedeuteten. Geboren wurde sie 1933 als uneheliches Kind einer Bauerntochter im Kanton Uri, lebte lange bei einer Pflegefamilie. Mit 15 floh sie ins Tessin und schlug sich mit Fabrikjobs durch. Im Alter von 20 Jahren zog es sie schliesslich nach Zürich, wo sie sich das Handwerk der Fotografie selber beibrachte.

Als sie mit 22 von Arbeitskollegen in eine Schwulenbar mitgenommen wurde, ahnte sie, dass ihr Herz für Frauen schlägt. «Da sass eine junge Frau, die aussah wie ein ‹Büebel›. Sie hatte kurze, dunkle Haare und schöne, grosse Augen.» Mit ihr machte sie ihre ersten sexuellen Erfahrungen. «Und ich betete danach das Vaterunser, um Danke zu sagen, dass ich einen so schönen Menschen ‹striichle› durfte.»

Psychologe riet, sich mit der Situation abzufinden

Trotzdem: Das schlechte Gewissen plagte die junge Frau. «Ich dachte: Ich bin unehelich, dumm und jetzt auch noch schwul!» Sie habe gar mit dem Gedanken gespielt, sich im Urnersee zu ertränken. Auch ein Psychologe konnte Tresch nicht helfen, von der Homosexualität wegzukommen – wie sie es sich damals wünschte. Er empfahl ihr, sich mit der Situation abzufinden. Sie sagte sich: «Wenn mich Gott schon so gemacht hat, soll er mich auch so nehmen, wie ich bin.»

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Tresch verbrachte immer mehr Zeit an Treffpunkten für Lesben und Schwule in der Stadt Zürich, darunter auch die Barfüsser Bar, die ab 1956 zu einem der wichtigsten Orte für queere Menschen wurde. «Ich war die einzige Person, die dort an der Fasnacht fotografieren durfte», erzählt Tresch stolz. Sie wollte die «Verträumtheit und die Seligkeit in den Gesichtern» einfangen – entstanden sind eindrückliche Zeitdokumente für die Schweizer Schwulen- und Lesbengeschichte.

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Die Polizei klingelte wegen der Bilder

Die Wichtigkeit der Aufnahmen bestätigt Historikerin Corinne Rufli (41), die Treschs Lebensgeschichte in ihrem Buch «Seit dieser Nacht war ich wie verzaubert. Frauenliebende Frauen über siebzig erzählen» dokumentiert hat. «Diese Bilder bieten einen Einblick in eine Community, die sich damals vor den Blicken der Öffentlichkeit und vor dem Staat schützen musste», sagt sie. «Es ist eine eindrückliche Dokumentation von Ausgelassenheit, Liebe, Freundschaft, Überbordung, Ängsten, Eifersucht, schrillen Kostümen, Zigaretten und Alkohol.»

Liva Tresch sei wegen der Bilder auch von Polizei oder Privaten angefragt worden. «Es gab immer wieder Menschen, die Lesben und Schwule erpressen wollten. Homosexuelle waren vom Staat nicht geschützt und der Willkür ausgesetzt», so Rufli.

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Sie glaubte nicht, dass Aktivismus etwas bringt

Für Tresch, die 1968 mit ihrer damaligen Lebenspartnerin ihr Fotogeschäft in Zürich eröffnete, war die Gemeinschaft das Grösste: «Die Szene war für mich wie eine Familie.» Politischer Aktivismus sei aber nichts für sie gewesen. «Damals glaubte ich nicht, dass das etwas bringt.» Heute wisse sie, dass Frauen, die laut auf den Strassen protestierten, etwas erreicht haben.

Derzeit ziert eine Regenbogenfahne die Fassade von Treschs Haus, die sie für die Abstimmung zur Ehe für alle aufgehängt hat. Sie finde die Ehe zwar nicht erstrebenswert, weil sie zu viele gescheiterte Ehen kenne. Ihr Anliegen sei vielmehr, dass jeder Mensch die gleichen Rechte bekomme. «Es geht hier um Respekt, Schutz, Freiheit und Gleichberechtigung.» Niemand habe das Recht, ihr zu sagen, sie dürfe eine Frau, die sie liebe, nicht heiraten. «Hier geht es um Liebe. Und die ist für alle gleich.»

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