Der Titel ist lang: «Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer», die Laufzeit ist es mit 129 Minuten nicht minder. Das neue Werk des Zürcher Filmemachers Samir (69) läuft heute in den Kinos an und beleuchtet den Umgang der Schweiz mit den italienischen Gastarbeitern, wie die Migranten aus dem südlichen Nachbarland während Jahrzehnten hiessen.
Der Bogen des Dokfilms reicht von den 1950er-Jahren bis heute und will zeigen, wie die linken Parteien und Gewerkschaften die Deutungshoheit über die Arbeiterklasse verloren, die es heute so gar nicht mehr gibt. Der Ausdruck «Arbeiter» sei, so die Kernthese von Samir, zum Synonym von «Ausländer» geworden. Dazu bietet er eine Fülle von Zeitzeugen auf, von Unia-Präsidentin Vania Alleva (55) bis hin zum langjährigen Gewerkschaftsführer Vasco Pedrina (74).
Blick-Schlagzeilen als roter Faden
Und er erzählt parallel zur Geschichte der «Saisonniers» auch seine persönliche Biografie als Sohn einer aus dem Irak nach Dübendorf ZH geflüchteten Familie. Diese Szenen aus seiner Kindheit und Jugend sind mit Animationssequenzen illustriert, die mithilfe der «Motion Capture»-Technologie zustande kamen.
Gleichzeitig ist der Film eine umfangreiche Medien- und Filmsammlung. Eine dominante Rolle nimmt dabei Blick ein. Anhand von vielen Schlagzeilen und Artikeln aus den vergangenen Dekaden werden Ereignisse gezeigt, die die Bevölkerung im Zusammenhang mit den «Gastarbeitern» bewegten. Die Beispiele sind nicht immer frei von Polemik. So zeigt eine als «Vogelmord in den Ferien» betitelte Reportage das angeblich zum Touristen-Spass stattfindende Abschiessen von Staren an der Adria.
Blick bezog Partei
Blick bezieht aber auch klar Partei, so bei der Berichterstattung über die Tragödie von Mattmark VS. Am 30. August 1965 wurden dort durch einen Abbruch des Allalingletschers 88 Bauarbeiter, 56 davon Italiener, von einer riesigen Eis- und Geröllschicht verschüttet.
Beim Prozess wurden alle 17 Angeklagten, darunter Ingenieure, Verantwortliche der Elektrowatt und Suva-Beamte, freigesprochen, obschon die Gefahren bekannt waren. Die Angehörigen der Opfer mussten sogar die Hälfte der Verfahrenskosten übernehmen. «Sie starben für uns», lautete die Überschrift in der Blick-Ausgabe vom 1. September 1965 samt Namensliste aller Verunglückten.
«Schrankkinder» bekommen eine Stimme
Mit passenden Ausschnitten aus rund 25 bekannten Dok- und Spielfilmen wie «Bäckerei Zürrer», «Siamo Italiani» oder «Die Schweizermacher» dokumentiert Samir die vermehrte Aufnahme des Themas im Kino und den sich verändernden Zeitgeist.
Und er belegt mit «Das höchste Gut einer Frau ist ihr Schweigen» der Solothurner Regisseurin Gertrud Pinkus (79), dass entgegen der landläufigen Annahme bis in die 1960er-Jahre hinein mehr Frauen als Männer aus Italien in die Schweiz kamen und dass diese Immigation für die Frauen auch eine Form der Befreiung und Emanzipation darstellte.
Das Verbot, ihre Kinder mitzunehmen, führte zu unzähligen Tragödien und die Eltern versteckten die sogenannten «Schrankkinder» vor der Fremdenpolizei. Auch ihnen gibt der Film nun eine Stimme.