Andi Gerber (57) spricht impulsiv, lässt keine Möglichkeit aus, einen Spruch zu reissen. Seine Frau Sina Signorell (46) ist das Gegenteil, überlegt vor jeder Aussage zweimal. Doch auf eine Frage kommt die Antwort aus beiden Mündern wie aus der Pistole geschossen: Wären Sie ohne Pfarrer Ernst Sieber (†91) noch am Leben? «Nein, auf keinen Fall.»
Gestern Nachmittag: Gerber und Signorell sitzen in ihrem Garten in Neuhausen am Rheinfall SH. Alles blüht, die Sonne scheint. Im Nachbargarten jauchzen Kinder auf dem Trampolin. Das pralle Leben. Der Kontrast zum Ort, wo Sieber den beiden das Leben rettete, könnte nicht grösser sein. Himmel und Hölle.
«Belehrte uns nicht»
Gerber und Signorell waren Junkies, als Zürich Europas Heroin-Hauptstadt war, Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre. Sie war bereits am Platzspitz neben dem HB, er kam dazu, als die Repression der Stadtregierung die Heroin-Szene schon Limmat-abwärts an den Letten gedrängt hatte, an den Rand des Wohnquartiers Wipkingen. Man kannte sich vom Sehen, mehr nicht.
«Er kam uns sehr oft besuchen. Nicht, um uns zu belehren, sondern um uns in den Arm zu nehmen», blickt Gerber zurück. «Aber am wichtigsten war, dass er uns einen Platz anbot, wo wir geschützt waren. Wo wir einfach hingehen konnten, ohne langen Auswahl- und Registrierungprozess, wie die Institutionen der Stadt es verlangten. Das rettete uns das Leben.»
Konkret: Der Sune-Egge, ein Fachspital für Suchterkrankungen hinter dem HB und eine der zahlreichen Anlauf- und Schlafstellen, die Sieber aufgebaut hat. «Ging es mir richtig mies, ging ich in den Sune-Egge», sagt Signorell. Die Bündnerin landete schon mit 14 Jahren in der Szene. «Kaum ging es mir ein bisschen besser, war ich wieder weg, zurück in der Drogenhölle.» Erst als sie die Finger vom Heroin liess und auf Methadon umstieg, blieb sie.
«Er war echt»
Gerber war zu dem Zeitpunkt zwar schon weiter, weg vom Stoff. Doch weil er sich wegen der Langzeitfolgen der Sucht 2005 wieder im Sune-Egge behandeln lassen musste, traf er dort auf Signorell. Aus den flüchtigen Begegnungen, die die beiden zuvor in der Szene gehabt hatten, wurden im Sune-Egge regelmässige, danach noch mehr.
«Die meisten von uns glaubten nicht an Gott. Aber wenn der Pfarrer», so nennt ihn Gerber, «uns in der Cafeteria zusammentrommelte und von Jesus sprach, packte er fast jeden von uns. Er war ein enorm guter Erzähler.» Signorell ergänzt: «Und er war echt. Nicht wie so viele andere Prediger, bei denen man einschläft.»
Am Samstag ist Pfarrer Sieber gestorben.
Traurig? «Nur ganz kurz, nachdem ich es erfahren habe», sagt Gerber. «Dann habe ich gemerkt, dass es so richtig ist. Der Pfarrer hat in letzter Zeit immer wieder gesagt, die Zeit komme näher, wo der Chef ihn nach Hause holt.»