Eine grosse Regenbogenflagge weht am Zürcher Stadthaus, vor dem sich Passanten und eine Hochzeitsgesellschaft tummeln. Sie alle geniessen die Sonnenstrahlen an diesem traumhaften Sommertag. Die perfekte Kulisse für ein Interview mit Stadtpräsidentin Corine Mauch (61), die für unser Fotoshooting gut gelaunt am Flussufer steht und gegen die Sonnenstrahlen blinzelt. Es wäre auch das perfekte Wetter für das Zurich Pride Festival, das heute Samstag stattfindet – doch aufgrund der Pandemie wird der Anlass zum ersten Mal online als «Pride TV» aus dem Zürcher Club Moods übertragen.
Blick: Frau Mauch, heute findet das Zurich Pride Festival statt, das grösste LGBTQ+-Festival der Schweiz. Wie wichtig ist in der heutigen Zeit eine Veranstaltung wie die Pride überhaupt noch?
Corine Mauch: Sie ist sehr wichtig. Denn sie gibt allen Schwulen und Lesben, Bisexuellen und Transmenschen, allen Mitgliedern der LGBTQ+-Community, die Möglichkeit, Sichtbarkeit zu schaffen, sich zu treffen und die Community zu feiern. Zürich war für die Gay-Szene immer wichtig. Man denke nur an die Schweizer Schwulenorganisation Der Kreis in den 50er-Jahren, worüber es ja auch einen tollen Film gibt. In Zürich hat es zudem mehr eingetragene Partnerschaften als gesamtschweizerisch gesehen. Zürich wäre ohne die Pride, ohne diese Community nicht die Stadt, die sie ist.
Ist dies auch ein Grund dafür, weshalb viele junge Gays in der Schweiz vom Land in die Stadt, vorzugsweise nach Zürich, ziehen?
Ja. In einigen ländlichen Gebieten ist man noch stärker konservativ geprägt. In Zürich haben wir eine sehr lebendige LGBTQ+-Szene. Hier ist man sichtbar ein Teil der Community und kann offener so sein und leben, wie man ist.
Weshalb ist das Coming-out und die Sichtbarkeit für die Gay-Szene so wichtig?
Es gibt Befragungen, zum Beispiel im Kanton Aargau bei 17 Schulklassen, die zeigen, dass viele Jugendliche der Meinung sind, dass gleichgeschlechtliche Liebe nicht normal, also nicht zulässig ist. Dabei gibt es gerade aktuell in Bern eine Ausstellung über Homosexualität auch im Tierreich. Das zeigt auf, dass das Leben und die Gesellschaft, die Liebe viel vielfältiger sind als nur heteronormativ. Doch gerade für Jugendliche ist sehr schwer, sich als «anders» zu outen. Sie haben Angst, ausgegrenzt zu werden, von Gewalt betroffen zu sein. Auch ist die Suizidrate bei schwulen, lesbischen oder Transjugendlichen höher. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die LGBTQ+-Community immer wieder thematisieren und zeigen, das gehört zu uns. Ich hoffe, dass es irgendwann kein Thema mehr ist. Aber im Moment ist es leider noch nicht so weit.
Seit 2003 können gleichgeschlechtliche Paare ihre Partnerschaft in Zürich eintragen lassen. Im September stimmen wir über die Ehe für alle ab. Weshalb ist diese Vorlage so wichtig?
Weil der Zustand, wie wir ihn jetzt haben, keine echte Gleichberechtigung ist.
War die eingetragene Partnerschaft also nur eine Kompromisslösung?
Ja, das war sie. Es ging damals darum, mal einen Schritt zu machen – das war richtig. Aber nun ist die Ehe für alle ein weiterer ganz wichtiger Schritt, weil es jetzt darum geht, für gleichgeschlechtliche und verschiedengeschlechtliche Paare echte Gleichberechtigung zu schaffen. Gerade beispielsweise auch, was den Zugang zur Samenspende für lesbische Paare anbelangt.
Knackpunkt Samenspende für Lesben. Warum sorgt dieses Thema für derart hitzige Diskussionen?
Ich glaube, das hat mit der heterosexuellen Norm unserer Gesellschaft zu tun, die sehr stark unser Denken prägt. Das sind Rollenbilder, Normen, die uns zugeschrieben werden, die uns Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten wegnehmen und einengend sind.
Und auch sexistisch.
Ja. Man weiss ja heute, dass wir alle männliche wie auch weibliche Anteile in uns tragen. Trotzdem denken immer noch viele, ein Mann muss so sein, eine Frau so und eine Familie kann nur aus Mann und Frau bestehen. Es geht darum, freier im Denken zu werden und zu erkennen, dass auch homosexuelle Paare wunderbare Eltern sein können für ihre Kinder. Zum Glück denken immer mehr Menschen so, aber es ist leider noch nicht selbstverständlich. Deshalb ist es umso wichtiger, dieses Thema immer wieder aufs Tapet zu bringen und darüber zu berichten.
Warum hinken wir bei der Ehe für alle weit hinter Ländern wie USA, Deutschland und England hinterher?
Vielleicht ist es unsere Kompromiss- und Konsens-Demokratie. Aber jetzt gilt es, eine echte Gleichberechtigung zu schaffen.
Sie leben seit 2014 mit Ihrer langjährigen Partnerin Juliana Müller in einer eingetragenen Partnerschaft – werden Sie, wenn die Vorlage angenommen wird, heiraten?
Ich glaube nicht. Die Ehe für alle ist für mich in erster Linie politisch wichtig. Es geht dabei nicht um mich und meine persönliche Lebenssituation. Persönlich habe ich mir noch nicht viele Gedanken dazu gemacht. Adoption und Zugang zu Samenspende ist für mich und meine Partnerin in unserem Alter kein Thema mehr. Aber die Gleichberechtigung und Freiheit für alle ist mir sehr wichtig.
Sie sind seit 2009 Stadtpräsidentin von Zürich, standen von Anfang an zu Ihrer Partnerin. Was gab Ihnen den Mut, so frei dazu zu stehen?
Ganz einfach: Ich hätte gar nicht anders gekonnt. Wir alle möchten uns doch entfalten und das Leben so leben, wie wir wollen. Und für mich war immer klar, ich stehe zu mir und zu meiner Partnerin. Natürlich standen für das Amt als Stadtpräsidentin meine politischen Ansichten im Zentrum und nicht mein Privatleben. Aber ich möchte mich auch nicht verstecken. Wenn ich meine Lebensweise und meine Partnerin verstecken müsste, würde ich dieses Amt nicht wollen.
Sie wurden dadurch zum grossen Vorbild in der LGBTQ+-Gemeinde – was bedeutet Ihnen das?
Es bedeutet viel. Ich habe damals viele Rückmeldungen bekommen, vor allem von lesbischen Frauen. Eine Bekannte sagte mir, sie hätte ihre private Situation bisher bei Bewerbungsgesprächen immer verschwiegen und jetzt mache sie das nicht mehr, sondern stehe dazu, lesbisch zu sein. Das ist natürlich sehr schön, wenn man dazu beitragen kann, dass andere noch mehr sich selber sein können. Wenn wir eine freiheitliche Gesellschaft sein wollen, in der man sich entfalten kann, muss man zu sich stehen können.
Manche sagen, die Sensibilität für LGBTQ+-Rechte in der Bevölkerung nehme zu, andere berichten, dass Hass gegen die Community zunimmt. Was stimmt nun?
Gefühlsmässig nimmt der Hass leider zu, aber wir können die Zahlen noch nicht vergleichen. Wir erfassen in der Stadt Zürich die Zahlen von «Hate Crimes» erst seit Anfang Jahr. Ob der Hass wirklich zunimmt, wissen wir nicht, da fehlt uns die statistische Grundlage. Aber so oder so: Gewalt gegen Gays und Transmenschen ist in keiner Weise tolerierbar.
Welchen Rat würden Sie jemandem geben, der Angst hat, sich zu outen?
Mit Personen, zu denen der oder die Jugendliche Vertrauen hat, das Gespräch suchen. Wir haben dazu beispielsweise den Aktionsmonat «Likeeveryone» mit Züricher Jugendtreffs gemacht. In Schulen machen wir auch Weiterbildungen mit Sozialarbeitenden zum Thema Geschlechtsidentität. Man kann sich auch jederzeit bei der Fachstelle für Gleichstellung der Stadt Zürich melden, die helfen einem auch gerne weiter.
Müssen auch Sie sich manchmal noch outen?
Nein, muss ich nicht. Ich glaube, bei mir ist es einfach klar (lacht).
Haben Sie aufgrund Ihres Lesbischseins auch schon Benachteiligungen erlebt?
Zum Glück selten. Manchmal schreiben Leute und machen blöde Kommentare. Aber im Grossen und Ganzen erlebe ich zum Glück keine Benachteiligung.
Wie blicken Sie auf die Abstimmung im Herbst?
Ich bin sehr zuversichtlich. Die Annahme des Verbots der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung – «Ja zum Schutz vor Hass» – letztes Jahr an der Urne und auch die Ablehnung der Beseitigung der Heiratsstrafe, bei der man die Ehe nur als Bund zwischen Mann und Frau festlegen wollte, stimmen mich zuversichtlich.
Die Stadt Zürich erwacht aus dem Corona-Schlaf, auf was freuen Sie sich diesen Sommer besonders?
Ich habe mich sehr gefreut, dass die Restaurants wieder offen sind. Es wurde schwierig, mit den Sitzungen und dem Essen, weil ich mir immer überlegen musste, wo ich noch etwas zu essen finde (lacht). Und natürlich auch, dass das Kulturleben wiedererwacht. Dass ich wieder an Konzerte und Veranstaltungen gehen kann. Es ist vor allem auch schön zu sehen, wie die Menschen in der Stadt daran Freude haben.
Wie lange werden Sie noch Stadtpräsidentin bleiben?
Ich habe angekündigt, dass ich nächstes Jahr nochmals kandidiere. Wenn ich nochmals gewählt werde, dann wäre ich nochmals Stadtpräsidentin bis ins Jahr 2026. Was nachher kommt, weiss ich noch nicht. Das ist noch ganz offen. Es war ein anstrengendes Jahr, Corona hat uns sehr gefordert. Aber ich habe nach wie vor grosse Freude an den Herausforderungen und an meiner Arbeit.
Geboren in Iowa City (USA) wuchs Corine Mauch (61) bis zum vierten Lebensjahr in den USA, später im Kanton Aargau auf. Sie ist die älteste Tochter der ersten Aargauer Nationalrätin Ursula Mauch (86) und des Ingenieurs Samuel Mauch (87), der die links-freisinnige Partei Team Baden mitgründete. Mauch studierte Agronomie an der ETH Zürich und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Lausanne. Als Kandidatin der SP wurde sie 2009 zur ersten Stadtpräsidentin von Zürich gewählt. Mauch lebt mit ihrer langjährigen Partnerin Juliana Müller in Zürich.
Geboren in Iowa City (USA) wuchs Corine Mauch (61) bis zum vierten Lebensjahr in den USA, später im Kanton Aargau auf. Sie ist die älteste Tochter der ersten Aargauer Nationalrätin Ursula Mauch (86) und des Ingenieurs Samuel Mauch (87), der die links-freisinnige Partei Team Baden mitgründete. Mauch studierte Agronomie an der ETH Zürich und absolvierte ein Nachdiplomstudium in Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Lausanne. Als Kandidatin der SP wurde sie 2009 zur ersten Stadtpräsidentin von Zürich gewählt. Mauch lebt mit ihrer langjährigen Partnerin Juliana Müller in Zürich.