Seit dem 28. Februar 2020 befindet sich die Schweizer Veranstalterszene in der grössten Krise, die sie je gesehen hat: Grossanlässe bleiben bis mindestens 8. Juni verboten, was danach mit dem Festival-Sommer passiert, liegt auf der Hand. «Viel besuchte Events bleiben problematisch. Und dies noch längere Zeit», sagt Epidemiologin Olivia Keiser (44) von der Universität Genf. Deutlichere Worte findet Veranstalter-Legende André Béchir (70): «Für dieses Jahr ist ausgefeiert. Grossanlässe mit über 3000 Menschen können 2020 wohl nicht stattfinden. Und Open Airs schon gar nicht.»
Der Bundesrat hüllt sich derweil in Schweigen. Erst am 29. April wolle man entscheiden, ob und wieweit man das Verbot von grossen Sport- und Musikanlässen lockern wolle, sagte Bundesrat Alain Berset (48) am letzten Mittwoch. «Jetzt schon zu sagen, was von Juli bis Oktober ist, ist schwierig.» Von einem definitiven Entscheid abhängig sind aber viele: Allein beim führenden Billettverkäufer Ticketcorner, der zu 50 Prozent zu Ringier gehört, fallen 1,5 Millionen Eintrittskarten auf Open Airs und Festivals während der Sommersaison.
Open Airs können ohne Verbot nicht absagen
Das bundesrätliche Zuwarten löst in der Veranstalterszene grosse Verzweiflung aus. «Es entzieht uns wichtige Rechtsgrundlagen zum Handeln», sagt Christoph Bill (49), Präsident des Verbands Schweizer Veranstalter SMPA. «Wir können weder absagen noch sicher sein, ob wir unsere Anlässe durchführen dürfen. Übrig bleibt eine Risikoabwägung.»
Viele Künstlerverträge können erst bei einem nationalen Event-Verbot mit der Begründung der höheren Gewalt aufgelöst werden. Gleichzeitig entstehen bei Aufträgen an externe Dienstleister zunehmend Kosten, und bei Verträgen mit Infrastruktur- oder Gastronomielieferanten immer höhere Annullationsgebühren. Bereits auf 2021 verschobene Festivals, wie das Montreux Jazz Festival oder das Paléo in Nyon VD pokern innerhalb einer rechtlichen Grauzone. Das Paléo beispielsweise liefert für die Vertragspartner als Absicherung ein Rechtsgutachten.
Verband empfiehlt, Events bis Mitte Juli abzusagen
Seinen Verbandsmitgliedern empfiehlt Bill, alle Events bis Mitte Juli schon jetzt zu verschieben. Und alle, die für danach vorgesehen sind, noch normal zu planen. Obwohl eine normale Durchführung wohl ohnehin ausgeschlossen ist: Die meisten Künstler aus dem Ausland werden gar nicht erst in die Schweiz einreisen können.
So etwa die Headliner vom Greenfield Festival in Interlaken BE: Die finnische Band Nightwish um Sängerin Floor Jansen (39) hat SonntagsBlick bestätigt, dass sie nicht ins Berner Oberland reisen werde. Davon will man bei den Organisatoren noch nichts wissen. «Band-Absagen haben wir noch keine erhalten», sagt Thomas Dürr (53), CEO von Act Entertainment. Er verweist darauf, dass man am Mittwoch über eine etwaige Verschiebung kommunizieren wolle.
Gleich handhabt es das Open Air St. Gallen. Dort gibt man sich allerdings nicht sehr optimistisch: «Nach heutigem Wissensstand und der Entwicklung der Situation gehen wir trotz aller Hoffnung nicht davon aus, dass unsere Veranstaltung stattfinden kann», so Festivaldirektor Christof Huber (49).
Es geht um über 200 Millionen Franken
Bei einer Absage aller Festivals würden in diesem Jahr Einnahmeausfälle «von deutlich über 200 Millionen Franken» entstehen, schätzt Christoph Bill. Einige Open Airs könnten für immer verschwinden. «Ich rechne definitiv damit, dass einige Branchenpartner diese Krise nicht überleben», sagt André Béchir. «Der Markt war schon vor der Krise übersättigt.»
Und auch die Prognose für die spätere Zukunft sieht düster aus. Selbst wenn eine Impfung gegen Corona gefunden würde, sei die Zeit der Massenveranstaltungen wahrscheinlich vorbei, meint der US-Bioethiker Ezekiel Emanuel (62) in der «New York Times». Eine Vision, die Veranstalter Dürr nicht teilt. Er arbeitet mit Branchenkollegen an einem Lockerungskonzept für die Eventbranche, das er dem Bundesrat vorlegen will.
Sein Vorschlag: Anlässe künftig in Sitz- und Stehplatzkonzerte zu unterteilen. «Bei bestuhlten Veranstaltungen ist die natürliche Distanz schon von vornherein viel grösser.» Seine Forderung: «Sobald Restaurants und Bergbahnen öffnen, sollten auch Kulturveranstaltungen unter 1500 Besuchern mit entsprechenden Auflagen möglich sein.» Grössere Hallen können für die Durchführung von kleineren Events genutzt werden.
Ein weiterer unsicherer Faktor ist das Verhalten des Publikums. Allein bei Ticketcorner sind die Billettverkäufe um 95 Prozent eingebrochen. «Viele Menschen haben in dieser Krise Geld verloren», sagt André Béchir. «Wie und wo sie ihre Prioritäten nach dem Lockdown setzen werden, wissen wir nicht.» Die Unterhaltungsbranche habe sich in diesen Wochen grundlegend verändert.
ABSAGE: Wenn die Veranstaltung, für die Sie Ihr Ticket gekauft haben, abgesagt wurde, bekommen Sie den Ticketpreis zurückerstattet. Einige Veranstalter erheben auf die Rückerstattungen einen Unkostenbeitrag von fünf Franken, bei den Sommerevents von zehn Prozent des Ticketpreises. «Dies als Beitrag an die hohen Annullationskosten und die immensen Vorleistungen», sagt Ticketcorner-Chef Angehrn.
VERSCHIEBUNG: Wenn Ihre Veranstaltung verschoben ist, behalten die Tickets ihre Gültigkeit für das neue Datum. Sofern Sie am neuen Datum nachweislich verhindert sind, deckt dies die Ticketschutz-Versicherung ab – egal, ob direkt über den Ticketanbieter oder privat abgeschlossen. Eine generelle Rückerstattung ist bei Verschiebungen nicht möglich. Falls Sie keine Versicherung haben, können Sie Ihr Ticket privat oder über das Ticketcorner-Portal fansale.ch weiterverkaufen.
KEINE ABSAGE ODER VERSCHIEBUNG: Das Ticket ist weiterhin gültig.
Alle Informationen über von der Corona-Krise betroffene Ticketcorner-Events finden Sie unter www.ticketcorner.ch/covid-19
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