«Äis, zwäi, drüü, vier, foif, sächs, sibe, acht, nüün, zää – ich chume!» Ein Mädchen, kaum zehn Jahre alt, zählt das Versteckis mit ihren Gschpänli an. Angesichts des Schicksals, das der Spielwiese der Kinder bald droht, erscheint dieser Countdown wie eine Verheissung. Der Brunaupark, ein Wohnkomplex am Fuss des Zürcher Uetlibergs, zählt seine letzten Stunden. Das Areal, bestehend aus vier Mietshäusern, einem Park und Gastro-Einrichtungen, wird einem Neubau-Projekt zum Opfer fallen – die Ladenflächen der Migros werden neu gestaltet. Die Zeichen der Zeit sind auch den Kindern vom Brunaupark nicht verborgen geblieben – sie sind mitunter die Hauptdarstellerinnen und -darsteller der gleichnamigen Filmdokumentation, die seit letztem Donnerstag einen ungetrübten Blick auf die Auswüchse der Zürcher Wohnungspolitik bietet. 239 von 405 Mietverträgen für Wohnungen hat die Besitzerin des Areals, die Pensionskasse der Credit Suisse, bereits gekündigt.
«Brunaupark» von Dominik Zietlow und Felix Hergert – beide Abgänger der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) – bildet den Tanz im Limbus der Unsicherheit auf inhaltlicher sowie visueller Ebene eindrücklich ab. Berechtigterweise gab es dieses Jahr am Dokumentarfilm-Festival «Visions du Réel» in Nyon VD den Jury-Preis. Das liegt nicht zuletzt auch an der Dramaturgie der 90 Minuten. Das Regie-Duo ist während drei Jahren, zwischen 2020 und 2023, in den Mikrokosmos eines Quartiers eingetaucht, das zwischen Anpassung und Rebellion mäandert. Über den Wohnungen und ihren Geschichten, die «Brunaupark» erzählt, schwebt die grosse Frage wie ein Damoklesschwert: «Was passiert hier genau? Und wann?»
«Anbau oder Neubau?»
Die Gruppe von Kindern, die Zietlow und Hergert als Prolog eingebaut haben, verdeutlicht das schon nach knapp zwei Minuten: In einer spielerischen Schulstunde fragt die Älteste der Bande, wofür wohl die Absteckungen rund um das Areal stehen. «Anbau oder Neubau?», fragt ein Mädchen. «Ich habe das so verstanden, dass wir dann nur noch diesen Platz haben», erwidert die Anführerin der Clique. Derweil turnt die Jüngste im Bunde an den Stangen herum, die kennzeichnen, wie der Neubau einmal zu stehen kommen soll. Ganz nach dem Motto: Solange hier nichts wortwörtlich in Stein gemeisselt ist, holen wir das Beste heraus.
Es ist auch die Mischung aus Nostalgie, Angst und Zweckoptimismus, die «Brunaupark» so nahbar macht. Sinnbildlich dafür steht Beizer Ciccio, der seinen «Treff», die Anlaufstelle des Quartiers, aufgeben muss. In sein Migros-Wägeli hat er Erinnerungsstücke aus 40 Jahren Gastro-Leben gepackt, jetzt zügelt er sein Hab und Gut in eine Wohnung auf dem Areal. Er möchte sie zu einem Begegnungsort umfunktionieren, er will seine Nachbarn einladen und mit ihnen über guten Käse schwadronieren. «Du kannst dir vorstellen, wie es mir geht. Nicht unbedingt phänomenal. Darum möchte ich hier so schnell wie möglich etwas machen», erklärt er dem Zuschauer. Dann ruft tatsächlich Jacques, ein älterer Franzose, an: «Wo bist du?» Jacques lässt sich nicht lange bitten. Das kurlige Duo betrachtet ein Bild, das Ciccio als Patron im alten «Treff» zeigt. «Da warst du noch rank und schlank, heute bist du zu dick», lacht Jacques. Muntere Worte in dunklen Zeiten. Sowohl Jacques als auch Ciccio wissen nicht, was ihnen bevorsteht.
Zeugnis einer katastrophalen Wohnungspolitik
Immerhin: Im März hob das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich die Baubewilligung auf, doch die Pensionskasse der CS zog das Urteil des Verwaltungsgerichts im Mai ans Bundesgericht weiter. Seit 2019 kämpft eine Interessengemeinschaft gegen das Vorhaben, sogar eine Uno-Sonderberichterstatterin hat sich zwischenzeitlich eingeschaltet. Dennoch – und das wird auch in «Brunaupark» mehr als ersichtlich – fühlt sich der Gentrifizierungsprozess im äussersten Teil langsam an wie eine Krankheit, deren Diagnose man nun endlich wissen möchte. Solange das Bauvorhaben verzögert wird, lebt der Brunaupark. Die Frage ist lediglich, wie lange.
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Natürlich ist die Dokumentation von Zietlow und Hergert vor allem ein Zeugnis der katastrophalen Wohnungspolitik in Zürich. Zwischen 2200 und 2650 Franken würden 3,5 Zimmer in der neuen Überbauung kosten. Bewohnerin Doris Müller macht die Not im Film deutlich. Während in ihrem Balkonfenster die Silhouette des CS-Verwaltungsgebäudes schimmert, erklärt die Rentnerin: «Wenn das mit der Wohnungsknappheit und den Mietzinsen weitergeht, ich hier rausmuss, eine neue Wohnung brauche und keine finde: Was mache ich dann, wenn ich das Geld für eine teure Wohnung nicht habe? Dann muss ich unter einer Brücke wohnen. Wenn das anderen auch noch so geht, dann muss die Stadt Zürich einfach mehr Brücken bauen.» Später wird sich ihr der Obdachlose Pius Andermatt anschliessen, er verbringt die Nacht im Keller des Brunauparks: «Die Kirchen sind alle geschlossen – und es gibt zu wenige Brücken in der Stadt.»
In Zürich ist jeder von der Wohnungskrise betroffen
Den moralischen Zeigefinger erhebt das Regie-Duo allerdings nur spärlich, es lässt sein Publikum selbst entscheiden, was es von den Dynamiken im Quartier halten will. Ob die Mieterinnen und Mieter Widerstand üben oder einfach erfolgreich verdrängen, ist unklar. Ebenso soll sich jeder selbst darüber eine Meinung machen, was er von Business-Apartments für Expats oder WG-Partys in Tiefgaragen hält, die langsam, aber sicher das alteingesessene Gefüge des Quartiers aus den Fugen geraten lassen. Einen bittersüssen Kommentar konnten sich die Filmemacher aber dennoch nicht verkneifen: Immer wieder zeigt «Brunaupark» Mitarbeiter der Credit Suisse als anonyme Parallelwesen, die mit der Realität der Bewohner etwa so wenig zu tun haben wie mit deren Einkommensklasse. Randnotiz: Zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nichts vom Untergang ihres Arbeitgebers.
Dass sich die zwei ZHdK-Alumni der unendlichen Geschichte der Zürcher Wohnungsnot überhaupt angenommen haben, hat persönliche Gründe, wie Co-Regisseur Felix Hergert gegenüber Blick erklärt: «Zwischen 2009 und 2018 habe ich an der Weststrasse, einer Verbindungsachse von Zürich Nord und Süd, gewohnt. 2010 baute man eine Umfahrung und führte Tempo 30 ein. Daraufhin hat sich die Strasse komplett verwandelt – die meisten Häuser wurden renoviert. Menschen, die zuvor jahrelang in dieser Abgaswolke gelebt haben, wurden dazu gezwungen, auszuziehen, und die Bewohnerschaft der Strasse wurde eine andere. Da habe ich realisiert, dass etwas nicht stimmt mit dieser Wohnpolitik. Seither habe ich das mit mir getragen.» Die meisten Bewohnerinnen der Stadt Zürich seien direkt oder indirekt von der Wohnungskrise betroffen.
«Brunaupark» ist ein geniales Zeitzeugnis – nicht nur, weil der Film auf einen Missstand hinweist, auf den man nicht genug aufmerksam machen kann. Die Dokumentation zeigt, wie fragil das Konstrukt Wohnraum ist, wie angreifbar Menschen werden, wenn ihnen der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Und dass die Stadt Zürich diese Warnzeichen endlich erkennen muss – die Symptome sind schon jetzt fatal.
«Brunaupark», seit vergangenem Donnerstag im Kino