Die Schweizer Überpünktlichkeit gebietet es, zu einem offiziellen Termin 20 Minuten zu früh zu erscheinen – auch wenn die Basler Spätjulihitze jede Sekunde Anstand zur Qual macht. Plötzlich funktioniert Emil Steinberger (91) das Fenster seines Ateliers zum kleinsten Zirkus des Gundeli um. «Chömmid ine!». Charmant hält uns Steinberger die Türe auf und führt uns in seine Manege, in der er gemeinsam mit Frau Niccel (59) an seiner Kunst tüftelt.
Emils Opus ist so umfassend, dass ein einziges Atelier dafür nicht genug Raum böte. Glücklicherweise hat sich der junge Schweizer Filmemacher Phil Meyer (34) dieser Mammutaufgabe angenommen – sie heisst «Typisch Emil» und feiert am diesjährigen Zurich Film Festival Weltpremiere. Zu diesem Anlass erhält der Kabarettist auch eine Auszeichnung für sein Lebenswerk.
Zeit seines Lebens hat sich Steinberger mit der Schweiz und ihren Eigenheiten auseinandergesetzt, er hat das Land und unsere «Mödeli» ad absurdum geführt, seziert – und in die weite Welt getragen. Wer eignet sich also besser für ein Gespräch zum Nationalfeiertag als er? Bei Kafi und Brioche mit Schweizer Fahne lässt Steinberger Revue passieren – und stichelt gegen Bundesbern.
Blick: Herr Steinberger, ich bin etwas erschrocken, als ich die Beschreibung ihres Filmes «Typisch Emil» gelesen habe.
Emil Steinberger: Warum das denn?
Sie schreiben darin, der Film tauche in eine Welt, in der Sie «gegen die Schatten ihrer Kindheit kämpfen». Das hat mich nachdenklich gemacht.
Wissen Sie, ich habe zu Hause gelebt, bis ich 30 war. Dort hat man nie anerkannt, was ich mache – für meine Familie waren meine Auftritte Dummheiten. Sie haben sich auch nie etwas von mir angeschaut – ausser, ich habe sie vielleicht mal gezwungen, in den Zirkus zu kommen. Es ist ein hartes Leben – du gehst arbeiten, kommst nach Hause, gehst auf die Bühne, kommst zurück – und niemand interessiert sich. Man hat einfach alles ignoriert. Das waren harte Jahre.
Sie verarbeiten also ein Trauma?
Nein, ich blicke im Film zurück. Aber um es noch einmal bildlich zu machen: Es gab viele Abende, an denen ich weinen musste, als ich abends zu Hause losgelaufen bin. Niemand hat sich verabschiedet. Es hat mich «möge», dass meine Familie nicht einsieht, dass es etwas Positives ist, was ich mache. Es war ja klar: Ich habe da ein Talent – ich weiss zwar nicht, ob es von meinem Vater oder meiner Mutter stammt! (lacht)
Hegen Sie Groll gegen Ihre Eltern?
Das ist alles verflogen. Es hatte ja auch keinen Wert – meine Eltern haben eine fünfköpfige Familie durch den Krieg gebracht. Sie hatten Angst, dass ich mich nicht über Wasser halten kann. Ich war ja dann doch so vernünftig, dass ich ganz normale Berufe hatte – sei es als Postbeamter oder als Grafiker. Und nebenbei habe ich eben Kabarett gemacht. Bis dann halt jeder letzte Platz bei meinen Vorführungen ausverkauft war.
Und nicht zuletzt deswegen verleiht ihnen das Zurich Film Festival jetzt den Lifetime Achievement Award, den Preis für ihr Lebenswerk. Erlauben Sie mir – das hat so etwas Abschliessendes.
(Lacht) Wissen Sie, das ist schon das zweite oder dritte Mal, dass man mir so einen Preis verleiht. So schön es ist – diesen Fakt muss man ignorieren, es ist ja «nur» ein Titel – jeder weiss, was damit gemeint ist. Ich frage jedes Mal: Wer sagt denn, dass es schon fertig ist?
Wissen Sie schon, was Sie in Zürich zur grossen Gala anziehen? Bei über 30 Auszeichnungen dürften Sie Erfahrung haben.
Sagen Sie das bloss nicht zu laut, sonst bekomme ich Probleme! (Er lacht und schaut zu seiner Frau Niccel Steinberger, die im hinteren Teil des Ateliers ist). Ich war ja noch nie beim Zurich Film Festival – und ich hatte in den 1970er-Jahren, vor dem allerersten Emil-Auftritt, Angst in Zürich aufzutreten!
Der gebürtige Luzerner Emil Steinberger (91) – seit 2008 ist er Ehrenbürger – ist seit den frühen 70er-Jahren als Kabarettist im ganzen deutschsprachigen Raum erfolgreich. Sketches wie «S'Chileli vo Wasse» oder «Der Kinderwagen» sind Teil des Schweizer Kulturguts geworden. Zur ungemein grossen Popularität des gelernten Postbeamten trugen auch seine legendären Knie-Gastspiele oder die Hauptrolle im Film «Die Schweizermacher» bei. Nach einem längeren Aufenthalt in New York (USA) heiratete er 1999 seine heutige Gattin Niccel (59) und kehrte mit ihr in die Schweiz zurück. Seit 2014 lebt das Ehepaar in Basel.
Der gebürtige Luzerner Emil Steinberger (91) – seit 2008 ist er Ehrenbürger – ist seit den frühen 70er-Jahren als Kabarettist im ganzen deutschsprachigen Raum erfolgreich. Sketches wie «S'Chileli vo Wasse» oder «Der Kinderwagen» sind Teil des Schweizer Kulturguts geworden. Zur ungemein grossen Popularität des gelernten Postbeamten trugen auch seine legendären Knie-Gastspiele oder die Hauptrolle im Film «Die Schweizermacher» bei. Nach einem längeren Aufenthalt in New York (USA) heiratete er 1999 seine heutige Gattin Niccel (59) und kehrte mit ihr in die Schweiz zurück. Seit 2014 lebt das Ehepaar in Basel.
Angst?
Ich war immer beeindruckt, wenn ich Produktionen auf Zürcher Bühnen sah. Alle trugen massgeschneiderte Kostüme. Meine hingegen waren immer mindestens eine Nummer zu gross, da dies meine Körpersprache positiv unterstützte. Ich war dann verblüfft, als man mir erzählte, dass die Studenten in der Uni schon wie Emil sprechen. Da wusste ich, dass ich alle Schichten der Bevölkerung begeistern kann und der Siegeszug in der ganzen Schweiz konnte starten. Und jetzt erhalte ich einen grossen Preis aus Zürich, das ist quasi ein Sahnehäubchen. Ich bekomme direkt Herzklopfen, wenn ich daran denke. Hoffen wir, dass der Film auch wieder die ganze Schweiz erobern wird.
Im Oktober feiern wir den «Schweizermacher» Emil Steinberger – und am 1. August das Land, über das er immer so herrlich selbstironisch hergezogen ist.
Lustig! Gerade kürzlich ist ein deutsches Pärchen auf mich zugekommen, das den Film erst gerade gesehen hatte. Und sich auch heute noch davon angesprochen fühlt – 46 Jahre später!
Meinen Sie den so oft zitierten «Behördenwahnsinn»?
Es ist doch wirklich abenteuerlich, wenn man vor einem Beamten steht, der wissen will, wie der Metzger zum Nachnamen heisst. Und wenn man die Frage nicht beantworten kann, gilt man direkt als zu wenig integriert. Ich habe solche offiziellen Einbürgerungsfragen zugestellt bekommen – die kann kaum ein Durchschnittsschweizer beantworten. Das ist etwas fies.
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Sie haben bestimmt auch bei Ihren Stationen im Ausland mitbekommen, wie man über die Schweiz denkt.
Ich war einmal bei einer Filmvorführung der «Schweizermacher» am Swiss Institute in New York – die geladenen Gäste aus Italien, Frankreich und den USA haben herzhaft darüber gelacht, wie wir gewisse Dinge politisch handhaben. Ich habe mich in Grund und Boden geschämt. Vor allem hatte ich gerade ein paar Tage zuvor in einer Schweizer Zeitung gelesen, dass der Einbürgerungsprozess in gewissen Gemeinden noch verschärft werden soll.
Können Sie das erläutern?
Wie kann es denn sein, dass man in einer Gemeinde nicht die Staatsbürgerschaft bekommt, hundert Meter weiter – in einem anderen Kanton – aber schon? Allein das ist aus meiner Sicht nicht richtig. Das breitet sich ja dann auch aufs Schul- oder Polizeiwesen aus. Föderalismus ist ja schön und gut. Aber in einer Zeit, in der wir schauen müssen, dass alle Gemeinden finanziell über die Runden kommen, ist dieser Kantönligeist nicht mehr überall angebracht. Man sollte in gewissen Bereichen stärker die Kantonsgrenzen ignorieren.
Sie haben eine klare Meinung zur aktuellen Schweizer Politik.
Darf ich ausholen?
Ich bitte darum.
Im September gibt es wieder eine Abstimmung (Änderung vom 17. März 2023 des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG), Anm. d. Red.). Ich habe in einer Tageszeitung einen Artikel gelesen, der sie hätte erklären sollen. Und ich habe bei aller Liebe nicht verstanden, was da gemeint ist – das waren irgendwelche politisch-komplizierten Schilderungen, was jetzt zu tun sei. Und am Schluss sagte ein Experte: «Diese Abstimmung brauchen wir gar nicht!» (lacht). Jetzt stellen Sie sich einen Bürger vor, der sich einlesen will – und im Endeffekt wird ihm vorgerechnet, wieso das alles keinen Sinn macht! (Steinberger rückt mit dem Stuhl näher zum Tisch). Wir müssen hier unbedingt etwas ändern – so kann das nicht weiter gehen! Komplizierte Sachverhalte müssen so einfach kommuniziert werden, dass jeder die Situation versteht, bevor er oder sie sein Kreuzchen macht.
Sie finden die Schweizer Politik also zu kompliziert?
Es geht mir fachlich manchmal etwas zu weit – andererseits bin ich auch stolz darauf, über welche Themen wir in der Schweiz alles mitreden dürfen. Wenn mir die Deutschen sagen, dass sie uns dafür bewundern, dass wir über alles abstimmen können, erwidere ich jeweils: «Aber wir müssen dafür Radio hören, TV schauen, Zeitung lesen und noch an den Stammtisch gehen!» Übrigens, die entscheidenden Diskussionen entstehen erst in den letzten Tagen vor der Abstimmung – und dann ist mein Couvert schon lange bei der Post. Darauf hatte ich lange Zeit gar nicht geachtet.
Haben Sie denn einen Lösungsansatz?
Ich glaube nicht, dass ich so einen Ansatz in zwei, drei Zeilen eines Interviews entwickeln kann. Die Sache ist und bleibt vermutlich weiterhin kompliziert. Ich würde mir wünschen, dass Parteien vor Abstimmungen nicht aus reinem Eigennutz Falschinformationen streuen. Aber das ist wahrscheinlich ein sehr idealistisches Denken eines Schweizer Kabarettisten.
Darf man stolz darauf sein, Schweizer zu sein, Herr Steinberger?
Wieso auch nicht? Ich erwische mich immer wieder dabei, wenn ich im Ausland eine Schweizer Fahne sehe, dass mich dies direkt berührt. Sie ist ein Symbol, das mich glücklich macht.
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