Nein, der grosse Sieger der Academy Awards 2023 kam nicht bei allen gut an. Und doch: Bei den Buchmachern hatte der Film, für den eine Genrebeschreibung fast unmöglich ist, von Beginn an die besten Chancen. Diese Diskrepanz ist relativ einfach zu erklären: «Everything, Everywhere All at Once» ist nicht gerade einfach zu verstehen, die Handlung folgt keinem stringenten, roten Faden.
Im Zentrum der Handlung steht Waschsalon-Besitzerin Evelyn Wang (Oscargewinnerin Michelle Yeoh, 60), die droht, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren. Die Arbeit wird ihr zu viel, die Beziehung zu ihrer lesbischen Tochter Joy gestaltet sich als kompliziert und zu allem Unglück muss die Familie noch bei der Steuerberaterin (Oscargewinnerin Jamie Lee Curtis, 64) antraben – in den USA ist das ein, mit Verlaub, noch unangenehmeres Erlebnis als hierzulande.
Dann beginnt für Evelyn eine abenteuerlich-bizarre Reise in teils zusammenhanglosen Episoden. Und genau hier scheiden sich die Geister: Während die Academy vom Erfindungsreichtum des Regie-Duos um Daniel Kwan (35) und Daniel Scheinert (35) begeistert ist und hinter den Reisen durch Paralleluniversen einen tieferen Sinn sieht, ist «Everything, Everywhere All At Once» vielen wohl einfach zu kompliziert. Man kann beide Seiten verstehen.
Wurstfinger und Dildo-Waffen
Fest steht: Der Film ist ein visuelles Spektakel und für Personen mit Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, wohl eher ungeeignet. Auch eine gehörige Portion Fantasie und die Lust an einer Absurdität nach der anderen müssten eigentlich als Grundvoraussetzung auf das Filmplakat gedruckt werden – denn in ihrem ganzen Stress flüchtet sich Evelyn in Welten, in denen das Unmögliche zur Selbstverständlichkeit wird. Statt ihrer zarten Waschsalon-Hände hat sie plötzlich Wurstfinger und die Dämonen des Alltags (in Form von Sicherheitsbeamten der Steuerbehörde) besiegt sie mit Dildos, die zur fernöstlichen Monsterwaffe umfunktioniert wurden. Durchgeknallt – und lohnenswert?
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Die Moral der Geschichte könnte wohl lauten: «Wenn du ganz fest an dich glaubst und beginnst, deine Fähigkeiten zu schätzen, kannst du alles schaffen.» Für Evelyn hat die Reise durch die Paralleluniversen etwas Heilsames, von Minute zu Minute wird sie stärker – im physischen und psychischen Sinne. Stärke und Selbstverwirklichung sind Themen, die in Hollywood durchaus Konjunktur haben, Geschichten von Aufsteigerinnen und Aufsteigern sind beliebt und gerne gesehen. Davor, dass es Kwan und Scheinert geschafft haben, diesem Thema einen solch kreativen Anstrich zu verleihen, zieht die Academy zurecht den Hut. «Everything, Everywhere All At Once» ist dann aber eben doch «alles zusammen, überall und immer» und damit eine cineastische Reizüberflutung. Ein Film für die grossen Massen? Jein.