Alle Exponenten sind sich einig: Die aktuelle Situation ist katastrophal. Seit 18. Dezember sind sämtliche Kinos in der Schweiz wieder geschlossen. Der Verlust 2020 beträgt 181 Millionen Franken. Die Ticketeinbussen belaufen sich auf 8,5 Millionen, was einem Rückgang von 70 Prozent gegenüber 2019 entspricht. Es drohen Betriebsschliessungen, Tausende Stellen stehen auf dem Spiel. «Über Nacht sind wir von einer Branche mit einem Jahresumsatz von 15 Milliarden Dollar zu einem Geschäft geworden, das drei bis vier Monate keinen Penny einnehmen wird», sagt John Fithian (57), Chef des US-Kinoverbands. Die Krise ist lokal wie global.
Kino-Events wie die Solothurner Filmtage Ende Januar oder die Berlinale Anfang März finden digital statt. «Ich sehe in einem Onlinemodell trotzdem keine Zukunft. Die soziale Komponente macht ein Festival und ein Kinoerlebnis aus», sagt Edna Epelbaum (47). «Der Film gehört ins Kino.» Die Präsidentin des Schweizerischen Kinoverbands glaubt mit aller Kraft an eine Zukunft nach der Pandemie. Auch wenn die Abo-Zahlen der Streamingdienste im letzten Jahres signifikant zugenommen und viele Menschen ihr Equipment für die eigenen vier Wände massiv aufgerüstet haben. «Home Cinema wird dieses Erlebnis nie ablösen», ist sie überzeugt.
«Dieser Kampf ist nicht ausgestanden»
Ein ganz düsteres Bild malt hingegen der deutsche Kino-Vordenker und Festival-Veranstalter Lars Henrik Gass (55). Auch in Deutschland schlägt die Krise voll durch. Wöchentlich addieren sich Verluste von 17 Millionen Euro. Gass sagt: «Die Kinos gehören zu den grossen Krisenverlierern, weil es die Politik versäumt hat, diesen eine wirklich zukunftsfähige Perspektive zu geben – sei es als Museum oder als Absender von Onlineangeboten.»
Epelbaum sieht das anders: «Das Kino existiert seit 125 Jahren. Es konnte gerade wegen seiner Rolle als Brückenbauer zwischen Kultur und Wirtschaft bisher jede Krise überwinden und sich immer wieder neu erfinden. Das Kino ist gelebte Kunst, die wirtschaftlich und kulturell denken muss. Die Filmbranche ist nicht nur Arbeitgeberin von Tausenden von Menschen, sondern auch Vermittlerin zwischen Publikum und Kunstwerk, zwischen Kultur und Wirtschaft. Die Politik hat nun anerkannt, dass die Branche für ihr Berufsverbot entschädigt werden muss. Doch der Kampf ist noch nicht ausgestanden.»
«Es reicht nicht mehr aus, reines Kino zu machen»
Philippe Täschler, CEO der bekannten Kette Blue Cinema (früher Kitag), hat sich notgedrungen bereits intensiv Gedanken über die Zeit nach Corona gemacht. «Wir fokussieren nun darauf, in Zukunft vermehrt Kino und Entertainment unter einem Dach zu kombinieren.»
Gemäss Täschler reiche es heute nicht mehr aus, «nur reines Kino zu machen». Noch wichtiger würden «Übertragung von alternativem Content und Eventreihen als Kombination von Film und weiteren Erlebnisformen». Sein zur Swisscom gehörendes Unternehmen hat bei den Spielzeiten schon letzten Sommer reagiert, viele Spielstätten unter der Woche geschlossen und den Fokus aufs Wochenende gelegt. Verstärkt werden sollen zudem die Möglichkeiten, den Kinobesuch je nach Budget kostengünstiger zu gestalten oder zu «veredeln». Als Nennwert gibt er die «First Lounge» im Cinedome Abtwil (SG) an. «Dort vereinen wir Kino mit ultimativem Komfort: Bequeme Liegesessel, kostenlose Snacks und Getränke sowie eine im Saal integrierte Cocktailbar sorgen für eine VIP-Behandlung.»
Engpässe im Programm
Täschler ist überzeugt: «Kino ist der wichtigste Treiber für einen Film und für alle folgenden Auswertungsfenster. Ohne Kino ist es nicht möglich, in der ganzen Wertschöpfungskette optimale Umsätze zu generieren.» Viele mit Spannung erwartete Werke wie das neue Bond-Abenteuer «Keine Zeit zu sterben» oder die Umsetzung des Lebens von Ausbrecherkönig Walter Stürm (1942–1999) sind deshalb mehrfach verschoben worden.
Die Produktion von Filmen und TV-Serien ist zurzeit weltweit schwierig – auch in der Schweiz. Nennenswert sind hierzulande aktuell nur gerade die neuen «Tatort»-Folgen in Zürich und «Wilder IV» im Glarnerland. Auch dass die Kategorie «Bester Schauspieler» beim Schweizer Filmpreis heuer gestrichen worden ist, ist ein weiterer Beweis, wie dünn der Teppich ist. Wie das Bundesamt für Kultur Ende Januar kommunizierte, lag die Zahl der zugelassenen Schauspieler unter der Mindestzahl 6.
«Aufgeben kommt nicht infrage»
Aufgeben kommt aber nicht infrage. «In der Filmbranche muss man optimistisch bleiben. Sonst schafft man es nicht sehr lange», wie Produzentin Ruth Waldburger (69) sagt. Konzentration auf das Nächstmögliche ist das Gebot der Stunde. «Wir werden lokal arbeiten und unsere lokalen Partnerinnen und Partner vermehrt mit ins Boot nehmen müssen. Als Gesamtbranche wird es immer unverzichtbarer, mit vereinten Kräften an der Zukunft zu basteln und seinen eigenen Garten zu verlassen», sagt Edna Epelbaum.
Eine Rückkehr zum Lokalen ist bei der Produktion derzeit oftmals die einzige Option. «Corona hat zur Folge, dass man vermehrt mit heimischen Schauspielern und vor Ort arbeitet», sagt Casterin Corinna Glaus (64). Wie sich Produktionen und Zuschauergewohnheiten generell verändern würden, sei noch unsicher. Doch schon der Umstand, dass Castings momentan alle online und nicht physisch stattfinden, verändere einen Film.
«Local first» gilt auch in Übersee und Hollywood. Aufsehenerregendstes Beispiel ist die aktuelle US-Netflix-Produktion «Malcolm & Marie», ein Kammerspiel in Echtzeit, das unter Quarantäne-Bedingungen entstanden ist. Crew und Schauspieler lebten zusammen in einem Haus und schminkten sich sogar selber.