Sexualisierung einer Jugendlichen oder Kulturgut? Schauspielerin Nastassja Kinski (63) war erst 15 Jahre jung, als sie durch den «Tatort: Reifezeugnis» aus dem Jahr 1977 berühmt wurde. Es war nicht nur die Thematik, dass sie als Schülerin ein verbotenes Verhältnis mit ihrem Lehrer hatte, gespielt vom damalig 32-jährigen Schauspieler Christian Quadflieg (1945–2023). Im Kieler Skandalkrimi ist die Berlinerin in einer Liebesszene völlig entblösst zu sehen.
Die künftige Ausstrahlung ihrer Nacktszenen, will sie nun durch ihren Anwalt verbieten lassen, wie der «Spiegel» zuerst berichtete. Dafür habe er sich bereits mit dem verantwortlichen Sender NDR in Verbindung gesetzt. Kinskis Anwalt kritisiert laut dem Magazin das Fehlen einer «rechtswirksamen Einwilligung als Minderjährige», denn Nastassja Kinski sei damals «faktisch ohne Begleitung am Set» gewesen, als die Szenen gedreht worden seien. Unabhängig davon habe er im Namen der Schauspielerin «für die Zukunft eine Einwilligung widerrufen».
Politiker-Aussage ist sinnbefreiter Blödsinn
Ganz anders äussert sich NDR-Fernsehfilm-Chef Christian Granderath (65) im Internet: «‹Reifezeugnis› war in den Siebzigern eine sexuelle Initiation für sehr viele männliche Jugendliche. Auch deswegen ist dieser Tatort zur Legende geworden.» Eine Aussage, die Peter Schneider (66), der bekannte Schweizer Psychoanalytiker, gegenüber Blick scharf kritisiert. «Kinskis Nacktszenen als ikonische Masturbationsvorlage für die männliche Jugend der 1970er-Jahre zu verherrlichen, finde ich schwachsinnig und ignorant, was ihre berechtigte Forderung des Verbots ihrer Nacktszenen betrifft.»
Der deutsche FDP-Vize Wolfgang Kubicki (71) meint, «Reifezeugnis» sei «aus kunsturheberrechtlichen Gesichtspunkten ein Kunstwerk». Ein Satz, der Schneider fassungslos macht: «Diese Aussage ist sinnbefreiter Blödsinn. Es gibt an jedem Werk ein Urheberrecht. Alleine dieser Fakt macht es nicht automatisch zur Kunst.»
Zur Frage, ob es sich bei Nastassja Kinski damals um Missbrauch und sexuelle Ausbeutung handelte, sagt Schneider: «Was sie damals nicht als solches empfunden hat, kann ihr heute als solche erscheinen. Die dummen Aussagen von Granderath und Kubicki geben ihr mindestens nachträglich recht.»
Skandal-«Tatort» wird auf Google gesucht
Die Lolita-Debatte ist neu entfacht. Der umstrittene «Tatort» wurde erst Anfang Jahr auf dem deutschen Sender RBB erneut ausgestrahlt. Auch der deutsche, öffentlich-rechtliche Sender ARD sieht keinen Grund, diesen in den Giftschrank zu verbannen, was Eva Burgdorf (67) vom Landesfrauenamt Hamburg entrüstet. «Mich macht es fassungslos, dass die ARD diesen Film 2024 noch zeigt und ihn weiterhin in der Mediathek verfügbar macht», sagt sie gegenüber der «Bild».
Wie sieht es beim Schweizer Fernsehen diesbezüglich aus? Es zeigte ihn auf SRF1 nur einmal: am 18. Oktober 2010 um 0.40 Uhr anlässlich des 40. «Tatort»-Jubiläums. «Der ‹Tatort: Reifezeugnis› ist bei SRF nicht im Programm. Das SRF hat keine Rechte daran», schreibt die Medienstelle an Blick. Entsprechend sei er auch nie in der Mediathek vorhanden gewesen. Auf die Frage, ob es beim SRF andere Filme geben, die wegen Sexualisierung Minderjähriger je aus dem Programm genommen wurden oder es ein aktuelles Beispiel gebe, ist die Antwort: «Nein, uns ist dazu nichts bekannt.»
Für Peter Schneider stellt sich die Problematik nicht nur im Fernsehen. «Smartphones und Internet haben es leicht gemacht, Nacktfotos und Videos von sich zu verschicken, die dann ihrerseits unkontrolliert verbreitet werden können. Die Frage, was an Nacktaufnahmen über Jahrzehnte hinweg für die Öffentlichkeit aufbewahrt werden und sichtbar sein soll, stellt sich also generell.»
Wie sehr die meistausgestrahlte «Tatort»-Folge interessiert, sieht man auch auf Google. Sucht man nach «Tatort – Reifezeugnis», ist die erste von Google angezeigte Frage: «Wo kann ich den Tatort Reifezeugnis sehen?»