Die reformierte «Wort zum Sonntag»-Predigerin Chatrina Gaudenz
«Gottes Segen ist für jede und jeden»

Chatrina Gaudenz spricht über ihren Wechsel vom Journalismus auf die Kanzel, die Herausforderung als Pfarrerin und die Versäumnisse der reformierten Kirche während der Pandemie.
Publiziert: 16.05.2021 um 01:03 Uhr
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Chatrina Gaudenz ist im Unterengadin aufgewachsen.
Foto: Marion Nitsch
Interview: Peter Padrutt

Frau Gaudenz, sie waren früher Journalistin beim rätoromanischen Radio. Heute predigen Sie in der reformierten Kirche in Zürich-Fluntern. Gibt es etwas Verbindendes zwischen diesen beiden Berufen?
Chatrina Gaudenz: Mir gefallen Radiosendungen und Predigten, die verständlich sind. Verständlich im Sinne von: Ich spüre den Menschen, der da spricht. Ich höre die Musik hinter seinen Worten, die Leidenschaft hinter der Musik und die Person hinter dieser Leidenschaft. Also neben der Recherche, der Reflexion und dem Wissen geht es beim gesprochenen Wort für mich auch um das, was nicht auf dem Papier steht.

Gab es ein Ereignis in Ihrem Leben, das Sie zu diesem Schritt bewegt hat, vom Mikrofon zur Kanzel zu wechseln?
Es war ein langer Prozess. Ich wurde Mutter, meine Ehe scheiterte, ich studierte Religionswissenschaften mit Schwerpunkt Judentum, später Psychologie – verbrachte ein Jahr in Jerusalem. Im Laufe der Jahre wuchs mein Glaube an einen Sinn in unserem Leben und die Überzeugung, dass es wichtig ist, das Feld der Religionen nicht den Fundamentalisten zu überlassen.

Sie sind heute als Pfarrerin der Kirchgemeinde Zürich-Fluntern tätig. Wäre dies für eine Frau in Ihrer Heimat, dem Unterengadin, schwierig oder gar unmöglich gewesen, als Pfarrerin zu amten?
Das wäre durchaus möglich gewesen. Im Moment bin ich familiär in Zürich gebunden und deswegen hier. Zudem mag ich das Tempo in Zürich. Es ist nicht ganz so rasant wie in Jerusalem, aber etwas zügiger als im Unterengadin.

Sie haben sich zum Ziel gesetzt, sich für die «Ränder» der Kirche einzusetzen. Was heisst das genau?
Dieses Ziel hatte ich mir bei einem Aufbauprojekt in Greencity gesetzt, einem Neubaugebiet in Zürich. Aber Ränder interessieren mich insgesamt: Ränder des Lebens, Ränder einer Gesellschaft. In unseren westlichen Gesellschaften entwickeln sich die Kirchen im Moment zu Randerscheinungen. Sie werden kleiner und ärmer. Ich finde, dieser Prozess sollte nicht nur Reformstress und Panik auslösen, sondern auch als Chance wahrgenommen werden. Die Menschen kommen nicht mehr automatisch zu uns, also gehen wir zu ihnen.

In der katholischen Kirche wenden sich progressive katholische Priester gegen Rom und segnen Lesben und Schwule. Ist die reformierte Kirche da offener – und wie wichtig ist Ihnen dieses Thema?
Gottes Segen ist für jede und jeden, die und der ihn empfangen will. Ende der Diskussion.

Persönlich: Chatrina Gaudenz

Chatrina Gaudenz (49) ist in Lavin GR im Unterengadin aufgewachsen. Sie studierte vergleichende Religionswissenschaften mit Schwerpunkt Judentum in Zürich, Luzern und Jerusalem. Sie ist Pfarrerin in der reformierten Gemeinde Zürich-Fluntern und gehört seit Herbst 2020 zum Team der SRF-Sendung «Wort zum Sonntag». Gaudenz ist Mutter von zwei Söhnen und lebt in einer festen Partnerschaft.

Chatrina Gaudenz (49) ist in Lavin GR im Unterengadin aufgewachsen. Sie studierte vergleichende Religionswissenschaften mit Schwerpunkt Judentum in Zürich, Luzern und Jerusalem. Sie ist Pfarrerin in der reformierten Gemeinde Zürich-Fluntern und gehört seit Herbst 2020 zum Team der SRF-Sendung «Wort zum Sonntag». Gaudenz ist Mutter von zwei Söhnen und lebt in einer festen Partnerschaft.

Das Pfingstfest steht vor der Tür. Viele Christen wissen vielleicht noch, was Weihnachten und Ostern bedeutet. Aber mit der Botschaft, dass die Jünger Jesu' mit dem Heiligen Geist ausgestattet wurden, tun sie sich schwer. Können Sie uns die Bedeutung genauer erklären?
Pfingsten ist das Fest der Be-geisterung! Die Bibel berichtet, wie Gottes Geist zu den Menschen kam, wie sie von einem unglaublichen Mut gepackt wurden. Hatten sie sich vorher in verschlossenen Räumen aufgehalten, so gingen sie jetzt auf die Strasse und erzählten, was ihnen auf der Seele brannte. In einem berühmten Pfingstlied aus dem 16. Jahrhundert heisst es dazu: «Jauchz, Erd und Himmel, juble hell; die Wunder Gottes froh erzähl.»

Was können wir aus dem Pfingstfest schöpfen?
Eine gute Portion Lebensmut.

Wie können weniger gläubige Christen an Pfingsten trotzdem etwas für sich gewinnen?
Schliessen Sie die Augen und erinnern Sie sich an einem Moment in Ihrem Leben, in dem Sie begeistert waren. Wo Ihr Herz Feuer und Flamme für etwas war. Etwas, das sie nicht mit Leistung oder Geld erwerben konnten. Etwas, das ihnen unerwartet geschenkt wurde. Vergegenwärtigen Sie sich diesen Moment. Geben Sie sich dafür genug Zeit und nehmen Sie wahr, was das mit Ihnen macht…

Sie gehören seit einem halben Jahr zum neuen Team des «Wort zum Sonntag». Welche Ihrer Botschaften zum Wochenausklang löste am meisten Reaktionen aus?
Die meisten Reaktionen bekam ich auf ein «Wort zum Sonntag» über antisemitische Aktionen und Verschwörungstheorien in der Schweiz. Die Coronapandemie hat den Antisemitismus in der Schweiz verstärkt zum Ausdruck gebracht. Ich finde, kein Mensch darf antisemitisch sein.

Wie kann man junge Leute heute noch als Pfarrerin erreichen? Auch die reformierte Kirche verzeichnet ja eine grosse Abwanderung zu Freikirchen.
Ach, wissen Sie, diese Frage wird immer wieder gestellt. Was soll ich dazu sagen? Ich habe zwei Teenager zu Hause. Sie finden die Kirche und meinen Beruf ziemlich «lost» und «strange». Daneben haben wir angeregte Gespräche über den Sinn des Lebens, über Fragen nach adäquaten Haltungen in komplizierten Lebensfragen. Ich mag den Widerstand, die Kritik und das Suchen von jungen Menschen. Ich traue ihnen ihren Weg zu, will sie nicht vom Glauben überzeugen. Das funktioniert nicht. Ich bezeuge meinen Glauben und lasse sie ihren Weg gehen. Und daneben vertraue ich dem Heiligen Geist und seiner Be-geisterungskraft!

Der deutsche Autor Heribert Prantl kritisiert in seinem Buch «Not und Gebot», die Kirche habe während der Pandemie versagt. Hat er recht?
Ich finde die Menschen in den Kirchen und anderen Glaubensgemeinschaften haben sehr viel gemacht. Seelsorge in Spitälern, Besuche am Gartenzaun, Hilfe beim Einkaufen und vieles Mehr. Ein Manko gibt es allerdings: Wir haben Menschen alleine sterben lassen. Das müssen wir uns vorwerfen lassen. Da hätten wir mehr protestantische Gesinnung zeigen und protestieren müssen.

Wie haben Sie selber diese Zeit erlebt? Wurden Sie selber mit Corona-Schicksalen konfrontiert?
Ich habe sehr einsame Menschen getroffen, isolierte Personen. Ich habe eine grosse Verunsicherung und Orientierungslosigkeit wahrgenommen und an verschiedenen Orten eine grosse Überforderung. Und mitten in diesem Chaos hatte ich viele berührende Begegnungen.

Als Pfarrerin sind Sie immer wieder mit Krankheit und Tod konfrontiert. Erinnern Sie sich an ein Ereignis, das besonders bedrückend für Sie war?
An ein bestimmtes Ereignis erinnere ich mich nicht. Mich erschüttern Krankheit und Tod immer wieder. Und, ich glaube an die Liebe – wie Thronton Wilder: «Es gibt ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn.»

Wie muss man sich das Privatleben einer Pfarrerin vorstellen?
Im Moment arbeite ich etwas zu viel. Wenn ich freihabe, bin ich gerne mit meiner Familie zusammen oder lasse mich von meinem Partner auf der Harley durch die Gegend fahren.

Ist man als Pfarrerin heute eigentlich 100-prozentig akzeptiert? Oder haben Sie – vor allem am Anfang der Ausübung Ihres Berufs – Zurückhaltung oder Ablehnung gespürt?
Also, meinen Sie, weil ich eine Frau bin? In der reformierten Landeskirche Zürich bin ich als weiblicher Pfarrer gut akzeptiert. Zurückhaltung, Ablehnung oder Irritation gegenüber meinem Amt erlebe ich eher von Menschen, die mit Kirche und Religion nichts am Hut haben. Da höre ich dann schon: «Was, du bist Pfarrerin?! Wieso denn das?! Glaubst du wirklich an Gott?!»

Was war bisher Ihr bewegendstes Ereignis während Ihrer Zeit als Pfarrerin?
Mir kommt die Begleitung einer sterbenden Frau in den Sinn und ihr letzter Wunsch, das Morgenlicht nochmals sehen zu dürfen. Oder dann die Taufe eines quietschfidelen, jungen Mädchens. Es war schon gross genug, um sich während der Taufe mitten in der Kirche hinzusetzen und das wunderbare Taufkleid auszuziehen. Danach turnte es in Strumpfhosen und T-Shirt auf den Bänken herum.

Hand aufs Herz: Haben Sie nie Lust, wieder eine Radiosendung zu moderieren?
Oh doch – am liebsten eine Hintergrundsendung über die Geschichte der Jukebox. Mir gefallen Jukeboxes. Man wirft einen Franken rein, es dauert ein Moment, arbeitet im Inneren und dann hört man Musik in unperfekter Tonqualität!

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