Böser Künstler! Böse Musik?
Darf man Michael Jackson trotzdem hören?

Die TV-Doku «Leaving Neverland» thematisiert alte Vorwürfe mit neuer Wucht. War Michael Jackson ein Kinderschänder? Der Streit hat nicht nur für Jacksons Vermächtnis 
Folgen. Ein Umbruch im Umgang mit Künstlern steht bevor.
Publiziert: 09.03.2019 um 13:49 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2019 um 15:09 Uhr
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Zehn Jahre nach seinem Tod steht Michael Jackson († 50) wieder in den Schlagzeilen.
Foto: AFP
Danny Schlumpf

«All die Wut, ihr werdet 
sie abbekommen», sagte ­Oprah Winfrey (65) am letzten Montag zu den beiden Männern. Die ersten Todes­drohungen hatten Wade Robson (36) schon kurz nach der Erstausstrahlung der TV-Dokumentation «Leaving Neverland» erreicht. Am selben Tag noch sass er mit James Safechuck (40) in Winfreys Sondersendung, um über den Film zu sprechen und darüber, was ihnen der grösste Popstar aller Zeiten angetan haben soll. «Michael war Gott für mich», sagte Wade Robson zur Talkmasterin. Und dieser Gott, so erzählen die beiden Männer im Film, habe sie als Kinder jahrelang sexuell missbraucht.

Seit Anfang der Neunzigerjahre rissen die Gerüchte nicht ab, Michael Jackson († 50) würde sich auf seinem Anwesen im kalifornischen Santa Barbara an Kindern vergehen. 2005 kam es zum Prozess, in dem der Superstar freigesprochen wurde. Die Gerüchte hielten sich auch nach seinem Tod 2009, doch sie ebbten allmählich ab. Bis Regisseur Dan Reed (54) sich erneut mit den Vorgängen auf der Neverland-Ranch beschäftigte und zwei Männer fand, die als Kinder viel Zeit mit Michael Jackson verbracht hatten.

Der Film «Leaving Neverland» schlug ein wie eine Bombe. Und die Reaktionen darauf sind so heftig, dass sie Anlass geben, über etwas Grundsätzliches nachzudenken, das über den Fall Michael Jackson hinausweist und in diesen Tagen neu formatiert zu werden droht: das Verhältnis von Künstler und Werk.

Es geht um die Deutungshoheit, den Künstler und sein Werk

Michaels Bruder Jermaine Jackson (64) beklagte auf Twitter, die Medien würden «ein Narrativ formen, ohne sich für Fakten, Beweise, Glaubwürdigkeit zu interessieren». Ob dem so ist, sei dahingestellt. ­Interessant ist Jermaines Verwendung des Begriffs «Narrativ». Damit meint er eine bestimmte Weise, wie die Medien über Michael Jackson und seinen Umgang mit Kindern schreiben, und welche Geschichte sie daraus formen. Er berührt damit einen kritischen Punkt. Denn selbstverständlich gibt es über dieses Thema ganz verschiedene Geschichten, und sie stehen miteinander in Konkurrenz. Es geht um die Deutungshoheit über den Künstler und sein Werk.

Jede dieser Geschichten kämpft darum, sich gegen alle anderen durchzusetzen und die Erinnerung an den King of Pop in ihrem Sinn und definitiv zu prägen. Welche Geschichte wird es sein? Es gibt zwei, die dominieren. Da ist die Geschichte, die Jacksons Familie erzählt, die Geschichte vom einsamen Sänger, der keiner Fliege etwas zuleide getan hätte, schon gar keinem Kind. Der nichts tat ausser zu singen wie ein Engel, aber immer wieder falschen Verdächtigungen ausgesetzt und im Film «Leaving Neverland» schliesslich zum Opfer eines «öffentlichen Lynchmords» wurde. Das ist die Opfer-­Erzählung. Ihr versucht auch eine weltweite Fangemeinde zum Sieg zu verhelfen, die sich unter dem Hashtag MJInnocent formiert hat.

Jackson-Boykotte laufen 
auf Hochtouren

Das exakte Gegenteil davon erzählt die Geschichte, die die Medien seit den Neunzigerjahren schreiben und weiterentwickeln. Sie berichten schonungslos über Gerüchte und Vorwürfe und zerren jeden vor die Kamera, der sich einmal auf Jacksons Neverland-Ranch aufhielt. Sie konstruieren die Täter-Erzählung, die in James Safechucks Worten in «Leaving Neverland» gipfelt: «Es war ein Geheimnis. Und Michael sagte mir immer wieder, wenn es jemand herausfände, sei sein Leben aus und meines auch.» Diese Erzählung erklärt den Popstar zum manipulativen Kinderschänder und sein musikalisches Werk zu einer Geräuschkulisse, die lediglich die Schreie der missbrauchten Kinder übertönt.

Die beiden gegensätzlichen Geschichten verbindet ein gemeinsames Merkmal: Sie machen keinen Unterschied zwischen dem Mensch und dem Künstler und keine Trennung zwischen dem Künstler und seiner Kunst. Und zeichnen so zwei diametral entgegengesetzte Porträts in perfekter Symmetrie: eine unschuldige Seele, ein begnadeter Künstler und sein unberührtes Werk auf der einen Seite – ein abgründiger Dämon und verworfener Barde mit Blut an seinen Händen und Blut an seiner Kunst auf der ­anderen.

Mit der Ausstrahlung von «Leaving Neverland» hat die Täter-­Erzählung die Oberhand gewonnen. Die Boykotte gegen Michael Jacksons Werk laufen bereits auf Hochtouren. In mehreren Ländern haben grosse Radiosender seine Songs aus dem Programm geworfen. Weitere werden folgen. Diese Entwicklung erinnert an das alte Rom und die Praktik der Damnatio ­memoriae, die Tilgung eines Namens aus dem Gedächtnis der Nachwelt. So wurden die Namen besonders verhasster Herrscher wie Caligula oder Nero nach deren Tod aus Büchern, Inschriften und Bauwerken entfernt.

Wagner war Hitlers Liebling - und wird trotzdem gespielt

Einen Kaiser tilgt man aus dem Gedächtnis, indem man seinen ­Namen ausradiert – einen Künstler, indem man seine Kunst löscht. In neuerer Zeit wurde mehrfach darüber diskutiert, ob das in Einzelfällen nicht geboten sei. Zum Beispiel im Fall des grossen Komponisten Richard Wagner (1813–1883), der seine antisemitischen Ressentiments kaum im Zaum halten konnte und von Hitler verehrt wurde. Oder im Fall des einflussreichen Philosophen Martin Heidegger (1889–1976), der sich für die Ideologie des Nationalsozialismus begeisterte. Allerdings: Wagner wird weiterhin gespielt und Heidegger immer noch gelesen. Michael Jacksons Lieder hingegen werden in diesen Tagen aus dem Radio verbannt. Und damit sind wir mittendrin in den Anfängen eines epochalen Umbruchs.

Wenn wir den King of Pop aus ­unserer Musiksammlung löschen, müssen wir auch unsere Videothek aufräumen und die Filme von Roman Polanski (85) und Woody Allen (83) entsorgen. Mit der «Bill Cosby Show» ist das bereits passiert. Der 81-jährige Schauspieler, der als Dr. Huxtable zum Rollenmodell des amerikanischen Familienoberhaupts schlechthin wurde, sitzt im Gefängnis. Beide sind erledigt: Bill Cosby und sein Werk. Und im Fall von Kevin Spacey (59) kann man gerade dabei zusehen, wie 
ein Schauspieler aus Filmen und Serien gelöscht wird. Und seine Kunst mit ihm.

Was passiert, wenn dieser 
Felsen bricht?

Düster sieht auch die Zukunft des R’n’B-Sängers R. Kelly (52) aus, der des sexuellen Missbrauchs in mehreren Fällen angeklagt ist. Seit über 25 Jahren werfen ihm Frauen vor, sie als Minderjährige missbraucht zu haben. Aber erst nach der TV-Dokumentation «Surviving R. Kelly» wurde er verhaftet. Für ihn wird es im bevorstehenden Prozess um Kopf und Kragen gehen. Seiner 
Musik droht schon vor der Urteilsverkündung der Abschuss. Sony hat die Zusammenarbeit mit ihm beendet. Mehrere amerikanische Radiosender wollen seine Songs nicht mehr spielen. Die Parallelen zum Fall Michael Jackson sind ­augenfällig.

Für R. Kellys Werk wird entscheidend sein, was in den nächsten 
Wochen mit Michael Jacksons Songs passieren wird. Der King of Pop hat mit seiner Musik Mass­stäbe gesetzt. Sein geniales Werk ragt über der Pop-Geschichte wie ein Monument. Doch das Monument droht einzustürzen. Und wenn ­dieser Felsen bricht, wird er die Werke vieler weiterer Künstler mit sich reissen.

Künstler und Täter

  • Roman Polanski (85): Der Regisseur hatte 1977 Sex mit der 13- jährigen Samantha Jane Gailey. Trotz des Vorwurfs der Vergewaltigung wurde er nur wegen ausserehelichem Sex mit einer Minderjährigen verurteilt. Polanski floh dann aus den USA. Und läuft dem Ruf eines Ver­gewaltigers bis heute erfolglos davon.
  • Woody Allen (83): Der Regisseur und vierfache Oscar-Preisträger gestand 1992, ein sexuelles Verhältnis mit 
Soon-Yi (48), der ­Adoptivtochter seiner Partnerin Mia Farrow (74), zu haben. Er trennte sich von Farrow und heiratete Soon-Yi. Seine eigene Adoptivtochter Dylan wirft ihm vor, sie als Kind missbraucht zu haben.
  • Bill Cosby (81): Der Schauspieler war der Star der Fernseh­serie «Die Bill Cosby Show», die von 1984 bis 1992 lief. Seit 2000 traten immer mehr Frauen an die Öffentlichkeit, die Cosby sexueller Übergriffe bezichtigten. 2018 wurde er zu einer mehrjährigen Haftstrafe ver­urteilt. Er sitzt im ­Gefängnis.
  • Kevin Spacey (59): Der Schauspieler spielte in vielen erfolgreichen Filmen und 
Serien mit, zuletzt in der Netflix-Serie «House of Cards», 
in der er einen machthungrigen Politiker darstellte. 2017 warfen ihm mehrere Männer sexuelle Belästigung vor, daraufhin feuerte Netflix den zweifachen Oscar-Gewinner.
  • R. Kelly (52): Der mit zahlreichen Awards ausgezeichnete Sänger gehört zu den erfolgreichsten Musikern unserer Zeit. Ihm wird seit über 25 Jahren ­immer wieder sexueller Missbrauch von Minderjährigen vorgeworfen. Nach der TV­Dokumentation «Surviving R. Kelly» wurde 
er im Februar 2019 verhaftet und angeklagt.
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