Hunderte Menschen, alte und junge, zuversichtliche und erschöpfte, stehen in Zürich für eine preiswerte Wohnung an. Die Schlange reicht über mehrere Strassenzüge, geht sogar ums Eck. Solche Szenen wurden zum Sinnbild verfehlter Wohnungspolitik.
Knapper und daher hoch begehrter Wohnraum hat vor allem in den Metropolen zu ständig steigenden Mietpreisen geführt.
Jetzt macht der Notstand nationale Schlagzeilen: In einem Monat stimmt die Schweiz über die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» ab, die von Bund und Kantonen verlangt, preisgünstige Mietobjekte verstärkt zu fördern. Bei der Abstimmung geht es auch um eine Glaubensfrage: Welche Wohnungsbaupolitik die Wähler wollen.
Immobilien haben eine attraktivere Rendite
In den letzten Jahren haben Fonds, Versicherungen, Anlagestiftungen, Bankengruppen und Pensionskassen immer mehr Grundbesitz angehäuft und dort Gebäude hochgezogen. Warum sie einen solchen Heisshunger auf Häuser entwickeln, liegt auf der Hand: In Zeiten von Negativzinsen versprechen Immobilien attraktivere Renditen als andere Anlagen. Eine absurde Folge dieser Entwicklung: Weil auch Pensionskassen eine möglichst satte Rendite anstreben, um ihre Renten zu sichern, zahlen deren Mieter im Interesse der eigenen PK-Vorsorge eine höhere Miete.
Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen den Appetit der Grossen: Von 2,2 Millionen Mietwohnungen gehörten im Jahr 2000 noch 57 Prozent Privatpersonen. Aktuell beträgt der Anteil privat vermieteter Wohnungen nur noch 47 Prozent. Im gleichen Massstab haben die Unternehmen aufgeholt. Der Anteil von Mietwohnungen im Besitz von Unternehmen stieg seit 2000 von 29 auf rund 40 Prozent – also um rund 300'000 Einheiten.
Der Mieterverband hat erforscht, welchen Firmen die Wohnhäuser in der Schweiz gehören. Die Angaben stützen sich auf deren Geschäftsberichte (siehe Tabelle). Dabei zeigte sich, dass der Anteil der Top-10-Investoren einen Marktwert von rund 80 Milliarden Franken hat.
Swiss Life gehören 35'000 Wohnungen
Dem Lebensversicherungskonzern Swiss Life gehört das grösste privat gehaltene Immobilienportfolio der Schweiz. 2009 besass das Unternehmen Investitionsliegenschaften, mit denen Mieteinnahmen generiert werden sollen, im Wert von elf Milliarden Franken. Nur zehn Jahre später gehören Swiss Life Immobilien im Wert von mehr als 23 Milliarden – neben Nutzbauten sind das rund 35'000 Wohnungen.
Ein gewichtiger Akteur mit über fünf Milliarden Franken Immobilienwerten ist die Pensionskasse der Migros. Auf den gleichen Betrag kommt die BVK, die Pensionskasse des Kantons Zürich, die grösste der Schweiz. Auch die Immobilienfonds der Banken UBS, Credit Suisse und Zürcher Kantonalbank mischen an der Spitze mit: «Bis zur Jahrtausendwende waren Anlagen in Immobilien für die grossen Finanzinstitute eher das Brot und die Butter, die Konfitüre wurde im Investmentbanking und im Kreditgeschäft verdient», sagt Hannes Reichel, Dozent für Architektur und Bauprozess an der ETH Zürich. Immobilien galten als sicher, aber unsexy. Reichel: «Insbesondere nach dem Crash von 2008 verschob sich allerdings der Fokus auch auf die Immobilien.»
Allein die UBS-Gruppe besitzt mehr als 30'000 Wohnungen – so viele, wie in ganz Biel BE stehen.Wie es sich anfühlt, eine Bank als Vermieterin zu haben, davon können Hunderte Mieter am Basler Schorenweg ein Lied singen. Weil der Immobilienfonds der Credit Suisse seine Wohnhochhäuser dort sanieren wollte, kam es zu einer Massenkündigung. Die gleiche Situation in Zürich, wo die CS-Pensionskasse 400 Mietern kündigt.
In beiden Fällen wurde sogar die Uno-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Wohnen tätig: In einem Schreiben an den Bund gibt Leilani Farha ihrer Sorge Ausdruck, dass bei den Kündigungen Menschenrechte verletzt werden.
Krieg der Zahlen
Der Kampf um die Abstimmung am 9. Februar wird zunehmend mit harten Bandagen geführt. Der Verband der Immobilienwirtschaft (SVIT) präsentierte am Mittwoch eine Studie mit dem Fazit: In der Schweiz könne «keine generelle Mietpreissteigerung festgestellt werden».
Der Angriff gilt den Statistikern des Bundes, die einen monatlichen Mietpreisindex herausgeben. Gemäss ihren Zahlen sind die Wohnungsmieten in der Schweiz zwischen Januar 2016 und November 2019 um 3,5 Prozent gestiegen.
Die SVIT-Studie kritisiert, «dass der Mietpreisindex die tatsächliche Entwicklung am Mietwohnungsmarkt überzeichnet» und vermutet, dass der Mietpreisindex kein repräsentatives Bild des Mietwohnungsmarkts wiedergebe.
Das angegriffene Bundesamt widerspricht: Niemand behaupte, dass immer alle Mieten gestiegen seien. Der Mietpreisindex erfasse sowohl Mietsteigerungen als auch Mietpreissenkungen. Ein Sprecher der Statistikbehörde: «Es lässt sich jedoch sagen, dass die Nettomieten seit Mai 2000 im Mittel um 28 Prozent gestiegen sind.»
Mieten sind gestiegen
Sogar aus der eigenen Branche gibt es auch andere Zahlen als jene des Verbandes der Immobilienwirtschaft. Das auf Immobiliendaten spezialisierte Unternehmen Pricehubble untersuchte in einer Mietpreisanalyse, wie sich der Markt in den Städten entwickelt hat.
Gemäss dieser Studie sind die Mieten in den vergangenen zehn Jahren gestiegen. Genf verzeichnete bei den Angebotsmieten in zehn Jahren einen Anstieg von über acht Prozent. In Lausanne waren es mehr als vier, in Zürich rund vier Prozent.
Die Prognose von Pricehubble-Mitgründer Markus Stadler: «Die Mieten dürften wohl leicht steigen.»