Wieso die Schweiz ein Erdöl-Land ist
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Wir und das schwarze Gold:Darum ist die Schweiz ein Erdöl-Land

Wir und das schwarze Gold
Wieso die Schweiz ein Erdöl-Land ist

Die Schweiz hat kein Öl. Aber ohne die Schweiz gäbe es keinen globalen Erdölmarkt. Hier haben nicht nur die grössten Handelsfirmen ihren Sitz, Schweizer Geologen spielten auch eine zentrale Rolle bei der Suche nach Ölreserven.
Publiziert: 30.05.2021 um 15:30 Uhr
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Aktualisiert: 05.06.2021 um 12:19 Uhr
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Viele Schweizer Geologen suchten im Dienst ausländischer Unternehmen nach Erdöl. Hier Arnold Heim in den 1950er-Jahren im Iran.
Foto: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv
Aline Wüst

Endlich, nach jahrelanger Vorbereitung ist es so weit: In Küsnacht ZH wird der Bohrturm aufgestellt! Und den Anwohnern versichert, dass sie bei künftiger Erdölförderung weder Lärm noch Rauch fürchten müssen. Wir schreiben das Jahr 1960, und der Bohrer frisst sich ins Gestein. Drei Monate lang. 2692 Meter tief. Heraus kommt dabei: nichts.

Die Schweiz ist öllos. Wir Schweizer sind aber die Erdölspürhunde der Welt. Kein Land hat gemessen an seiner Grösse so viele Erdölgeologen hervorgebracht. Die Schweizer Wissenschaftler waren so gut ausgebildet, dass ausländische Regierungen Anfang des 20. Jahrhunderts Inserate in Schweizer Zeitungen schalten, um Fachkräfte zu rekrutieren. Einer der Pioniere war Joseph Theodor Erb. Bereits 1900 reiste er im Auftrag der heutigen Shell nach Sumatra. Ein paar Jahre später übernahm er die geologische Leitung des Ölkonzerns. War in Nordamerika, Ägypten, Galizien, Russland und Mexiko tätig. Auch in einem Fischerdorf in Borneo wurde auf seine Empfehlung hin gebohrt. Im Gegensatz zu Küsnacht war es ein Volltreffer.

Oder der Glarner Daniel Trümpy. Er suchte für Shell in der Sahara und in Südamerika. Bedeutende Ölfelder entdeckt hat er Mitte der 1920er-Jahre in Mexiko. Oder Hans Kugler, der für eine englische Petrolfirma mehrere Erdölfelder in Trinidad aufspürte. Der Zürcher Arnold Heim war für Shell in Neukaledonien, Australien, Tasmanien, den Neuen Hebriden, Tahiti, Amerika und den Niederlanden. Ausserdem im Dienst anderer Gesellschaften in Kuwait, Bahrain und im Iran. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollen allein in Venezuela 20 Schweizer Geologen für Shell gearbeitet haben. Die Schweizer waren auf der ganzen Welt präsent, sodass sie in Erdölkreisen bald als «Swiss Gang» bezeichnet wurden.

«Hier ist die Wahrscheinlichkeit für Erdöl gross»

Bernhard Gunzenhauser ist einer der Schweizer Geologen, die für eine internationale Ölfirma in die Welt hinauszogen. Allerdings etwas später. Es war in den 80er-Jahren, als er für Shell im Oman und in Indonesien Erdöl suchte. «Wenn Sie durch die Wüste im Oman fahren, haben Sie keine Ahnung, was sich unter Ihnen im Boden befindet.» Es sei eine spannende Arbeit gewesen, nach eingehender Analyse aller verfügbaren Daten sagen zu können: «Genau hier ist die Wahrscheinlichkeit relativ gross, Erdöl zu finden.» Ob er richtig lag, erfuhr er oft erst Jahre später, wenn die Bohrungen gemacht wurden. Stiess Shell auf Öl, war es eine Genugtuung für den Basler Geologen.

Politik mischte sich kaum in Erdölgeschäft ein

Erdöl, diese zähe, schwarze Flüssigkeit, entstand während Jahrmillionen aus verfaulten Meerespflanzen und Tieren. Seine Entdeckung brachte uns viele Annehmlichkeiten. Die Zentralheizung und Autofahren für alle. Vor allem aber billige Energie und damit Wohlstand. Die Schweiz konsumierte das schwarze Gold nicht nur – sie verdiente am Boom mit. Und zwar richtig.

Als die Nachfrage nach Erdöl in den 1950er-Jahren stark stieg, war das Land perfekt aufgestellt. Schon seit dem 19. Jahrhundert ein Transitplatz für Rohstoffe, bot die Schweiz Erdölfirmen alles, um sich wohlzufühlen: tiefe Unternehmenssteuern, stabile politische Situation, gut ausgebildete Fachkräfte.

Monika Gisler hat zur Beziehung von Schweiz und Erdöl geforscht und ein Buch über die Schweizer Erdölgeologen geschrieben. Die Historikerin sieht noch zwei weitere Gründe dafür, dass die Schweiz heute einer der wichtigsten Handelsplätze für Rohöl weltweit ist. Es sind die Anwesenheit der Banken und die Schweizer Diskretion. Der Rohstoffhandel brauche viel Geld, um Geschäfte anzustossen, sagt sie. «Die Banken waren gern bereit, sich zu engagieren.» Diskretion gab es gratis dazu. Gisler sagt: «Die Schweizer Politik hat sich, ausser während der beiden Weltkriege, kaum ins Erdölgeschäft eingemischt.» Ganz im Gegenteil zu anderen Energieträgern. Die Atomenergie wurde früh reguliert und gesellschaftlich diskutiert. «Die Ölwirtschaft hingegen kann trotz Klimadebatten bis heute fast unbescholten vor sich hin wirtschaften», sagt die Historikerin.

Rohöl kommt via Pipeline in die Schweiz

Das Erdöl, das wir in der Schweiz konsumieren, stammt hauptsächlich aus drei Ländern: Nigeria, Libyen und Kasachstan. Es kommt direkt via Pipeline vom südfranzösischen Fos-sur-Mer via Jura in die Raffinerie nach Cressier NE zwischen Bieler- und Neuenburgersee. Oder bereits verarbeitet via Schiff und Bahn aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. In Cressier wird aus dem Rohöl etwa ein Viertel aller in der Schweiz verkauften Erdölprodukte hergestellt, unter anderem Benzin, Diesel, Heizöl.

Die Raffinerie gehört der Varo Energy. Einem Unternehmen mit Sitz in Cham ZG. Varo Energy ist ein Joint Venture von Vitol und der Carlyle Group. Vitol gehört zusammen mit Gunvor, Trafigura und Glencore zu den grössten Erdölhandelsgesellschaften der Welt. Vitol hat, wie auch die anderen drei Milliarden-Unternehmen, seinen Sitz in der Schweiz. The Carlyle Group ist eine der grössten börsennotierten US-amerikanischen Private-Equity-Gesellschaften.

Die einzige Schweizer Raffinerie gehört also einem der grössten Rohstoffhändler und der grössten privaten Beteiligungsgesellschaft dieses Planeten. Das Öl kommt zu grossen Teilen aus Nigeria. Einem Land, in dem die Bevölkerung trotz Erdölreichtum arm und die Elite vielleicht gerade deswegen korrupt ist. Ganze Landstriche sind wegen der Erdölförderung verseucht. Am Tag sieht man die Raffinerie in Cressier nur, wenn man vor ihr steht. In der Nacht leuchtet die Anlage von weitem. Schön, aber unheimlich.

Genau so ist es mit der Schweizer Rolle im globalen Ölhandel. Die wahre Bedeutung liegt im Dunkeln. Dabei ist die Schweiz trotz der Abwesenheit von Erdöl ein zentraler Akteur der Ölwirtschaft. Wegen unserer Wissenschaftler und unserer Politik. Doch das Milliarden-Business ist unter Druck. Wir sind Drehscheibe für ein System, das heute global in der Kritik steht. Nicht zuletzt wegen der jungen Menschen, die auf der Strasse für das Klima demonstrieren, hat das nun auch die Schweizer Politik begriffen. Und versucht nun, die grüne Wende herbeizuführen. Weg also von fossilen Brennstoffen, die bei der Verbrennung Unmengen an CO2 freisetzen und damit unseren Planeten aufheizen.

Erdölbranche wehrt sich

In zwei Wochen stimmen wir über ein Gesetz ab, das belohnen soll, wer weniger CO2 ausstösst. Damit ist nun passiert, was es zuvor nie gab: Die Schweizer Politik mischt sich ins Erdölgeschäft ein. Zwar nur ein bisschen, aber immerhin so fest, dass Erdölunternehmen wie Shell, Varo, Socar, Agrola, Total, BP und Tamoil es für nötig halten, sich zu wehren.

Der Schweizer Ölmarkt ist zwar klein. Die Schweiz aber hat als globaler Handelsplatz Strahlkraft. Zusammen mit der SVP kämpft die gesamte internationale Ölbranche dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Obwohl sogar sie versuchen – zumindest rhetorisch – sich vom Erdöl zu distanzieren: Die Schweizer Erdölvereinigung (mit Mitgliedern wie Shell, Avia, Migrol, Total & Co.) heisst seit letztem Jahr Avenergy.

Bernhard Gunzenhauser hat als beratender Geologe einer Zürcher Consultingfirma bis zu seiner Pensionierung weiter nach fossilen Brennstoffen gesucht. Später waren dafür keine weiten Reisen mehr notwendig. Das Know-how und ein Computer gespiesen mit allerlei Daten reichten, um von Zürich aus Aussagen über mögliche Vorkommnisse in anderen Teilen der Welt zu machen. Wir fragen Gunzenhauser, ob die Ölkonzerne eine Verantwortung tragen für den Klimawandel. Der ehemalige Shell-Geologe sagt: «Ja.» Und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt, als die Wissenschaft glaubhaft zeigen konnte, dass die durch Menschenhand entstandenen Treibhausgase wesentlich zur Klimaerwärmung beigetragen haben.

Die Ölwirtschaft versucht, sich in Sicherheit zu bringen, hängt sich ein grünes Mäntelchen um. Varo Energy, der Betreiber der Schweizer Raffinerie in Cressier, antwortet nicht auf die Frage, ob er eine Mitverantwortung für den Klimawandel trägt, sagt stattdessen: «Selbstverständlich spielt unsere Industrie eine wichtige Rolle in der Energiewende.» Varo konzentriere sich deshalb darauf, nachhaltige Energielösungen für die Zukunft zu entwickeln und fördern.» Es ist von Bioethanol die Rede und davon, dass der eigene CO2-Ausstoss schon enorm gesenkt worden sei.

Kommunikative Kniffe bringen nichts. Das entschied vergangene Woche ein niederländisches Gericht. In einem historischen Urteil verpflichteten die Richter Shell, seinen CO2-Ausstoss nicht nur mit Worten, sondern tatsächlich zu senken. Und zwar bis 2030 im Vergleich zu 2019 um 45 Prozent. Die Richter sagten in ihrer Urteilsbegründung: Shell trage mit seinem Geschäft zu den «schlimmen» Folgen des Klimawandels für die Bevölkerung bei und sei «verantwortlich» für enorme Mengen an ausgestossenen Treibhausgasen.

Alle haben vom Erdöl profitiert

Böse Unternehmen? Arme Bevölkerung? Geologe Gunzenhauser sagt: Das Erdöl hat der Menschheit in den letzten hundert Jahren eine stetige Verbesserung von Lebensumständen und Gesundheit gebracht. Was bedeutete: «Wir alle haben profitiert vom Erdöl. Und tragen somit ebenfalls eine Verantwortung.»

Verantwortung wahrnehmen heisst handeln. Annette Jenny ist Dozentin an der ZHAW und Expertin für Suffizienz. Suffizient zu leben heisst, möglichst wenig Ressourcen zu verbrauchen. Dazu gehört auch: auf Dinge zu verzichten, die viel Material oder Energie brauchen. Jenny sagt: «Das kann ein Gewinn sein.» Wer kein eigenes Auto mehr hat, muss sich nicht mehr um einen Parkplatz, um Reparaturen oder Versicherungen kümmern. «Wer mit dem Zug verreist statt fliegt, muss sich nicht mit unendlichen Ferienoptionen auseinandersetzen.» Wer Werkzeuge oder Skiausrüstung ausleiht statt kauft, hat zu Hause mehr Platz und spart Geld. Jenny sagt, dass Studien ziemlich klar zeigen, dass Konsumreduktion befreiend sein kann. Der Mensch sogar gewinne: Zeit, Unabhängigkeit, Abstand zum Konsumstress. Denn verzichten müssten wir auch, wenn wir in unbeschränktem Mass konsumieren. Auf Ruhe, Platz in den Städten, auf intakte Natur und Musse.



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