Was wir von Kapitänen lernen können
«Jetzt ist nicht die Zeit fürs Sonnendeck, sondern für den Maschinenraum»

Die Welt steckt in stürmischen Zeiten. Wie man diese am besten übersteht, weiss niemand besser als alte Seefahrer. Der Journalist und Autor Stefan Kruecken (47) verrät in seinem Buch «Das muss das Boot abkönnen», was wir von Kapitänen lernen können.
Publiziert: 29.11.2022 um 18:57 Uhr
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Wir haben mit dem Autor und Journalisten Stefan Kruecken (47) eine Rundfahrt durch den Hamburger Hafen gemacht. Am Freitag ist sein neues Buch erschienen: «Das muss das Boot doch abkönnen».
Foto: Lea Ernst
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Möwen kreischen, Gischt sprüht über den Bug. Stefan Kruecken (47) sitzt, wo er am liebsten sitzt: auf einem schwankenden Schiff.

Hinter ihm leuchtet die Elbphilharmonie in der Abendsonne, links der Fischmarkt, rechts die Hafenkräne. Auf einer Rundfahrt tuckern wir durch den Hamburger Hafen. Neben 400 Meter langen Containerschiffen wirkt unsere Barkasse unbedeutend klein.

Bemitleiden Sie uns Schweizer manchmal, weil wir kein Meer haben?
Stefan Kruecken: Naja, ihr habt dafür schöne Berge. Doch wenn ich ehrlich bin, sind die für mich eher im Weg. Ich will ans Meer.

Am Freitag ist Ihr neues Buch erschienen: «Das muss das Boot abkönnen». Mit den Geschichten alter Seefahrer wollen Sie der Gesellschaft Mut machen.
Genau. Wir stecken in stürmischen Zeiten. Alle dachten, 2022 werde sich die Lage wieder beruhigen, nachdem wir Corona durch die Impfung mehr oder weniger in den Griff gekriegt haben. Doch schon brach der nächste Sturm über uns herein: Putins Truppen überfielen die Ukraine. Krieg, Inflation, Angst vor Blackout und Atomkrieg – das verunsichert enorm.

Und was haben Kapitäne damit zu tun?
Niemand weiss besser, wie man einen Sturm übersteht. Wie man ein Boot sturmfest macht, die Crew zusammenhält. Von Kapitänen können wir viel lernen. Vieles ist heute enorm emotional aufgeladen. Das hat gute Seiten, doch bei einem Sturm braucht es die Pragmatik der Seefahrer, um Situationen lösen und überstehen zu können. Dasselbe gilt für den momentanen Zustand der Welt: Jetzt ist nicht die Zeit fürs Sonnendeck, sondern für den Maschinenraum.

Stefan Kruecken persönlich

2007 gründete Autor und Journalist Stefan Kruecken (47) gemeinsam mit seiner Frau Julia den unabhängigen Verlag Ankerherz. Sein bisher erfolgreichstes Werk «Sturmwarnung» (2016) wurde über 100’000 Mal verkauft. Am 25. November ist sein neues Buch «Das muss das Boot abkönnen» erschienen. Kruecken lebt mit seiner Frau, vier Kindern und zwei Hunden im Süden Hamburgs.

2007 gründete Autor und Journalist Stefan Kruecken (47) gemeinsam mit seiner Frau Julia den unabhängigen Verlag Ankerherz. Sein bisher erfolgreichstes Werk «Sturmwarnung» (2016) wurde über 100’000 Mal verkauft. Am 25. November ist sein neues Buch «Das muss das Boot abkönnen» erschienen. Kruecken lebt mit seiner Frau, vier Kindern und zwei Hunden im Süden Hamburgs.

Für Ihre Bücher haben Sie mit mehr als 150 Kapitänen gesprochen und viele von ihnen auf Hoher See begleitet. Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Ihre Widerstandsfähigkeit. Kapitäne lassen sich nicht beirren, vertrauen auf ihr Wissen und geben auch in schwierigen Zeiten nicht so schnell auf. Das Symbolbild eines Kapitäns, der das Schiff erst dann verlässt, wenn alle anderen in Sicherheit sind. Zwei Geschichten sind mir in besonderer Erinnerung geblieben.

Schiessen Sie los.
Erstens die eines Hamburger Kapitäns. Sein Frachter kämpfte sich 1991 durch den heftigsten Sturm seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Dann das Fiasko: Durch ein Leck dringt Wasser ein, die Rudermaschine fällt aus. Der Kapitän spürte, dass die Crew nicht daran glaubte, die nächsten Stunden zu überleben. Zur Ablenkung spielte er eine Kassette ab, die ihm seine Frau mitgegeben hatte: «Five Feet High and Rising» von Johnny Cash. Dass das Schiff nicht sank und die Besatzung überlebte, war nicht nur pures Glück – der Kapitän hat mit seinem «Dienstgesicht», wie er es nennt, alle gerettet.

Und die zweite Geschichte?
Das ist die von Kapitän Charly, einem alten Fischer aus Cuxhaven in Norddeutschland. Niemand konnte robusteres Seemannsgarn spinnen. Wenn wir telefonierten, fragte er jedes Mal: «Na min Jong, sind Frau und Kinder gesund?» Ich bejahte, und er erwiderte: «Dann ist ja gut. Den Rest kannst du schon irgendwie regeln.» Charly ist leider verstorben, doch dieser Satz gibt mir noch heute immer wieder Halt und Orientierung, wenn wir mit der Familie oder der Firma in einem Sturm stecken. Solange die wichtigsten Dinge in Ordnung sind, die man nicht beeinflussen kann, lässt sich alles andere schon regeln.

Sind Kapitäne tatsächlich so mürrisch und wortkarg, wie man sie sich vorstellt?
Ja, das ist kein Klischee (lacht). Einmal habe ich drei Tage lang einen begleitet, der nur «ja», «nein» und «Scheiss-Frage» geknurrt hat.

Hat Sie das verunsichert?
Nein, mir gefällt, dass Seeleute ein bisschen widerborstig sind. Im Titel meines neuen Buchs habe ich versucht, denselben Tonfall zu treffen.

Im Buch erwähnen Sie das Lied «Wellerman». Ein altes Seefahrerlied, das letztes Jahr zum Tiktok-Hit wurde und die Charts stürmte. Was fasziniert uns heute noch an der Seefahrt?
Die Seefahrerlieder, sogenannte Sea Shantys, sind einfache Lieder. Sie vermitteln das Gefühl, dass alle am gleichen Strang ziehen müssen, um die Arbeit zu schaffen. Es sind Lieder, die von gemeinsam überstandenen Abenteuern und von Gemeinschaft erzählen. Wir sitzen alle im selben Boot.

Ist das nicht ziemlich romantisiert?
Doch, total. Heute ist die Seefahrt schlecht bezahlt, steht unter Zeitdruck, ist total industriell. Viele der alten Kapitäne, mit denen ich gesprochen habe, würden unter heutigen Bedingungen nicht mehr rausfahren.

Was mögen Sie am Meer?
Seine Ambivalenz. Einerseits ist es wild und schweisst zusammen. Wer als Fremde an Deck geht, kommt als Freunde wieder an Land. Gleichzeitig erdet es ungemein. Vielen Politikern würde es guttun, eine Weile aufs Meer im Sturm zu blicken. Sich einmal ganz klein und unbedeutend zu fühlen.

Wie damals, als Sie im Auge eines Orkans von Island nach Dänemark gefahren sind.
Das war eine unglaubliche Erfahrung. Unser Kapitän nutzte den Wintersturm, um voranzukommen. Er steuerte das Schiff durch die ruppige See mitten in das Auge des Orkans. Dort war es merkwürdig still. Das Licht war milchig, irgendwie orangefarben. Es war, als würden wir stundenlang durch ein Gemälde von William Turner fahren.

Was hat Sie diese Erfahrung über das Leben gelehrt?
Ein Sturm auf hoher See ist nicht vergleichbar mit einem Sturm an Land. Der Wind brüllt, die Wellen prügeln, der Stahl des Schiffs verbiegt sich schreiend – es herrscht ohrenbetäubender Lärm. So ein Sturm setzt alles andere in Perspektive. Das Faszinierende dabei: Angst hatte ich keine. Weil ich dem Kapitän vertraut habe. In stürmischen Zeiten brauchen wir genau so einen unaufgeregten Kompass in unserem Leben.

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