Ein ehemaliger deutscher Staatsanwalt (52) hat seinen eigenen Sohn (8) in einer Nacht im März 2019 sexuell missbraucht. Der Fall wurde vor Gericht verhandelt, der Mann als schuldig befunden. Im Prozess behauptet der Vater unterdessen, er leide an Sexsomnia – und sei deshalb nicht schuldfähig. Doch was ist Sexsomnia eigentlich? Ramin Khatami, Chefarzt für Schlafmedizin und Epileptologie an der Barmelweid-Klinik, erklärt gegenüber Blick, was hinter der seltenen Schlafstörung steckt.
Was steckt hinter dem Phänomen?
«Bei Sexsomnia handelt es sich um eine schlafmedizinische Erkrankung, die unter die Kategorie von Parasomnien fällt, zu denen auch das Schlafwandeln gehört», erklärt der Chefarzt im Interview. «Gekennzeichnet werden diese durch unbewusste Handlungen in der Tiefschlafphase. Davon weiss man meistens nichts mehr, sobald man erwacht. Speziell bei Sexsomnia ist, dass es sich bei den angesprochenen unbewussten Handlungen um jene sexueller Natur handelt, etwa Masturbation oder Geschlechtsverkehr.»
Khatami, der bereits in der Neurologischen Klinik an der Charité in Berlin gearbeitet hat, weist auf die Seltenheit der Krankheit hin. Parasomnien seien im Allgemeinen häufiger bei Kindern zu beobachten und würden sich meistens in der Adoleszenz auswachsen. Erwachsene seien seltener davon betroffen. «Rein theoretisch könnte Sexsomnia auch in einem Kind festgestellt werden. Kinder haben aber noch keine ausgeprägten sexuellen Bedürfnisse. Somit ist der grösste Teil von Parasomnie-Betroffenen ausgeschlossen, was unterstreicht, wie selten das Phänomen wirklich ist.»
Die Diagnose ist «sicher nicht einfach»
Die Diagnose dieser Schlafstörung ist aber alles andere als einfach: «Um Sexsomnia zu diagnostizieren, werden Patienten im Schlaflabor mit Videoaufzeichnungen und Messungen von Hirnströmungen untersucht.» Doch auch eine Vielzahl anderer Kriterien spielt eine Rolle. Am nützlichsten für die Experten sind dabei die sogenannten Triggerfaktoren. «Die Triggerfaktoren, sprich andere Schlafstörungen, Schlafentzug oder Krankheiten wie Fieber, können wir ausnutzen. So kann man einem Patienten beispielsweise extra Schlaf entziehen, um ihn anfälliger für parasomnische Aktivitäten zu machen. So kann die Diagnose erleichtert werden.» Einfach sei die Diagnose dennoch nicht.
Eine genaue Untersuchung ist entscheidend
Der mittlerweile verurteilte Vater, der in Lübeck vor Gericht stand, erklärte, von seiner Tat nichts mitbekommen zu haben. Ob man wirklich nichts von seinen nächtlichen Aktivitäten merkt, hängt laut Chefarzt Ramin Khatami oft auch vom Alter ab. «Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass Kinder sich kaum an ihre parasomnischen Aktivitäten erinnern können. Das Kind steht am Morgen ausgeruht auf, während die Eltern die halbe Nacht wach waren, weil ihr Kind schlafwandelte.»
Bei Erwachsenen könne es jedoch noch eher vorkommen, dass sich diese an einzelne Fragmente ihrer Parasomnie erinnern können. Im Fall aus Deutschland bleibt unklar, ob der Vater Sexsomnia nur vorgetäuscht hatte oder wirklich betroffen ist. Laut Khatami ist daher eine genaue Untersuchung «entscheidend».
Ein unsichtbares, aber weltweit verbreitetes Problem
Die «American Academy of Sleep Medicine» führte 2010 eine Studie zum Phänomen durch. Dabei wurden 832 Patienten, die wegen einer vermuteten Schlafstörung in einer Klinik beobachtet wurden, untersucht. Resultate zeigten auf, dass 7,6 Prozent der Patienten sexuelle Handlungen begonnen oder sogar vollzogen haben, obwohl sich ihr Körper im Tiefschlaf befand.
Sexsomnia könnte jedoch auch als unsichtbares Phänomen durchgehen: Betroffene sind sich ihrer Handlungen selbst nicht bewusst, ausser ihr Bettpartner weist sie darauf hin. Das kann in vielen Fällen auch mit grosser Scham, Verzweiflung und Stress zusammenhängen, was es für Betroffene schwierig macht, intime Beziehungen aufzubauen.