Luzern. «Grüssgott und herzlich willkommen», sagt ein maskierter Mitarbeiter des Uhrenladens Bucherer am Schwanenplatz. Kate Winslet lächelt. Von einem Longines-Plakat. Im Laden mehr Angestellte als Kunden. Normal wäre: ein Gedränge am Eingang, die drei Stockwerke proppenvoll. Stattdessen Stille. Mit dem Ausbleiben der asiatischen Reisegruppen ist 90 Prozent des Umsatzes weggebrochen. Bucherer baut in der Schweiz bis zu 220 Stellen ab. Die übergrosse Rolex am Eingang des Ladens tickt unbeirrt weiter.
Grenchen SO. Mitte 19. Jahrhundert war Grenchen ein Kaff mit klugem Gemeinderat. Statt den Armen ein Schiffsticket nach Amerika zu kaufen, wie es umliegende Gemeinden taten, wurden junge Leute, unter ihnen viele Frauen, in die Romandie geschickt, um das Uhrmacherhandwerk zu erlernen. So wurde 1851 die Uhrenindustrie angesiedelt und Grenchen ziemlich schnell vom Bauerndorf zur Industriestadt. Viele Uhrenfabriken entstanden damals. Heute gehören fast alle der Swatch Group. Im Restaurant Passage im Stadtzentrum gibt es für 3.50 Franken einen Toast mit Ei und Mayonnaise drauf – Aussicht auf die Swatch-Uhrenfabrik ETA inbegriffen. Das Selbstverständnis der Grenchner tönt in etwa so: «Alle reden immer von Biel. Dabei sind wir die Uhrenstadt. Alle Innovation kommt von hier.»
Ob Grenchen, Biel oder Luzern: 100'000 Arbeitsplätze hängen in der Schweiz mit der Uhrenindustrie zusammen. Weltweit sind 95 Prozent der Uhren, die mehr als 1000 Franken kosten, Swiss made. Für uns Schweizer sind die Uhren aber mehr als ein Wirtschaftszweig. Die Uhren verkörpern, womit wir zwar kokettieren, aber uns tief drin definieren. Die Uhr ist, wie wir Schweizer sein wollen: pünktlich, präzise, beständig. Es ist lebende Geschichte. Unser Stolz. Das Glanzstück der Schweizer Wirtschaft. Jetzt kommt Corona und legt die Uhrenindustrie lahm, weil die Touristen ausbleiben. In Hongkong kollabiert wegen politischer Unruhen einer der wichtigsten Uhren-Handelsplätze, und Apple wird immer erfolgreicher mit seiner Smartwatch, obwohl in so einer Uhr nichts tickt und es keine Handwerker, sondern Programmierer dafür braucht. Das kratzt am Ego. Doch für Eitelkeiten bleibt keine Zeit. Die Welt dreht immer schneller. Und die Zeit, in der wir leben, verkörpert alles, wofür wir Schweizer nicht stehen wollen. Sie ist unberechenbar, unbeständig und wirft über den Haufen, was immer selbstverständlich war.
Angst um den Job
Immerhin da, wo Rebekka Meier (29) wohnt, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die 1895 erbaute Villa gehörte dem Uhrenfabrikanten Adolf Michel. 2500 Arbeiter beschäftigte er Anfang des 20. Jahrhunderts. Vom Liegestuhl auf der Terrasse sieht Meier direkt in die Fabrikationsräume, die heute der Swatch Group gehören. Wobei: Viel zu sehen gibt es da nicht – Kurzarbeit. Mit den Uhrenarbeitern zu reden, ist nicht möglich. Diese Branche lebt von der Verschwiegenheit. Nun kommt die Angst um den Job hinzu. Was noch scheuer macht. Wenn jemand redet, dann der Chef. Und der gibt sich optimistisch. Im Schweizer Fernseher sprach Nick Hayek vergangene Woche von Wachstum. Und zwar für die gesamte Uhrenbranche, ganz besonders natürlich für Swatch. Hayeks Fazit: «Wir haben riesiges Potenzial.»
Rebekka Meier hat Uhrmacherin gelernt und sich dann selbständig gemacht. Sie repariert alle Uhren, ist aber Spezialistin für Grossuhren. Am Handgelenk trägt sie eine Swatch mit ihrem Jahrgang. Die 29-Jährige kann sich berauschen an der Schönheit von Uhren. Zerlegt sie in ihre Einzelteile, findet das Problem, löst es. Sie öffnet eine goldene Taschenuhr, darin tickt es – allerdings nicht so, wie es sollte. «Ich liebe es, in eine Uhr hineinzusehen», sagt sie. Es ist dieser emotionale Wert einer Uhr, der Meier fasziniert. Der gehe nie verloren. Denn eine Uhr könne über Generationen weitergegeben werden. Die Frage sei, wie lange der praktische Wert von Uhren noch erhalten bleibt. Einfach gesagt: die Uhr als Gegenstand, um die Zeit abzulesen.
Boris Banga hat Zweifel
Einst richtete sich der Mensch nach der Natur. Zeitliche Orientierung gab das erste Krähen des Hahns, der Untergang der Sonne. Das Leben von Menschen zu synchronisieren – und das ist das Ziel von Zeitmessung –, ist mit einem Hahn allerdings schwierig. Es kräht schliesslich nicht jeder Hahn zur gleichen Zeit. Für die Bauern spielte das keine so grosse Rolle. Es waren die wachsende Anzahl Kaufleute, die darauf angewiesen waren, einen bestimmten Moment in der Zukunft fixieren zu können. So ergab eines das andere und führte schliesslich zur Erfindung der mechanischen Uhr. Damit war Zeit fortan objektiv messbar. Ein Meilenstein in der Menschheitsgeschichte. Heute die banalste Funktion jedes Smartphones.
Um den Mittag sitzt der langjährige Stadtpräsident von Grenchen in der Baracoa-Bar. Boris Banga (71) zündet sich eine Zigarre an. Wie viele Uhren hat der ehemalige Vorsteher einer Uhrenstadt zu Hause? «Sicher von jeder Marke eine», sagt Banga. Er erzählt von der Hochachtung, die er vor Hayek senior hatte, aber auch, dass die robusten und preiswerten Grenchner Uhren in den Weltkriegen an unzähligen Handgelenken von Soldaten zu finden waren und auch die Artillerie-Zünder von hier kamen. Nach einer Weile sind wir im Jahr 2020 angelangt. «Hat man etwas verpasst in der Uhrenbranche?», fragt er. Und gibt die Antwort gleich selber: «Ich habe meine Zweifel, ob wir in die richtige Richtung gegangen sind.» Er, der 22 Jahre Stadtpräsident war und Grenchen mit seiner unkonventionellen Art schweizweit bekannt machte, sagt: «Alle Uhren sind ja mehr oder weniger gleich.» Was der Mensch sich heute mit einer Uhr kaufe, sei ein Traum: Wer eine Breitling hat, fühlt sich als Pilot. Eine Fortis am Handgelenk tragen Ingenieure und Architekten. An seinem Handgelenk eine Eterna – «Abenteurer!». Er habe das Gefühl, es habe wenig Innovation gegeben in den letzten Jahren, sagt Banga. Aber vielleicht verstehe er auch einfach nichts davon. Schliesslich sei er Anwalt und nicht Uhrmacher. Er gibt trotzdem eine Prognose für die Uhrenbranche ab: «Es wird noch hueremässig wehtun.»
Jahre bis zur Normalisierung
Anders als Boris Banga kennt Daniel Schluep (66) die Uhrenbranche von innen. Er führt das Traditionsunternehmen Titoni in dritter Generation. Auch Titoni hat seinen Sitz in Grenchen. Schluep ist nicht persönlich zu sprechen, weil er am Swiss Economic Forum weilt. Er schreibt aber per Mail: «Das Uhrengeschäft ist zurzeit schwierig, vor allem weil die Verkäufe an asiatische Touristen sowohl in Asien als auch in Europa inklusive der Schweiz, insbesondere in Luzern und Interlaken, weggebrochen sind.» Mit den fehlenden Flugpassagieren fehlten auch die Kunden in allen Duty-Free-Geschäften, schreibt er weiter. Die Probleme in Hongkong würden zusätzlich zur schwierigen Situation beitragen. Seine Prognose: «Es wird wohl mehrere Jahre dauern, bis wir wieder auf dem Umsatzniveau von 2019 sein werden.»
Was in Grenchen alle einfach locker beiseitewischen: die Apple Watch. Bruno Bertini (66), seit 40 Jahren Uhrmacher in Grenchen und spezialisiert auf Reparaturen der Marke Certina, sagt es am charmantesten: «Wissen Sie, die Jungen tragen jetzt vielleicht so ein Compüterli am Handgelenk. Aber wenn sie 40 werden, wollen sie dann auch eine schöne mechanische Uhr.»
30,7 Millionen Smartwatches wurden 2019 ausgeliefert. Das sind 36 Prozent mehr als im Vorjahr. Die gesamte Schweizer Uhrenbranche hat im vergangenen Jahr 21,1 Millionen Uhren verkauft. 13 Prozent weniger als im Vorjahr. Ganz kalt lässt das auch Hayek nicht: Diese Woche hat er die Tissot Smartwatch lanciert. An eine Bedrohung der Uhrenbranche durch Apple glaubt der Swatch-Chef allerdings nicht. Das könnte fatal sein. Schon einmal haben die Schweizer eine neue Technologie unterschätzt – die Quarzuhr. Sie wurde zwar in der Schweiz erfunden. Die Uhrmacher glaubten aber nicht, dass sie sich durchsetzen könnte. Die Japaner schon. Die günstigen und genauen japanischen Uhren haben dann der Schweizer Uhrenbranche in den 70er-Jahren fast das Genick gebrochen.
Luxusmarken wenig betroffen
Schweizer Uhren brauchen immer weniger Menschen, um die Zeit abzulesen. Uhren haben aber, wie es eben Rebekka Meier sagt, einen emotionalen Wert. Oder aber: Es geht um Prestige. Darauf zielt auch der einzige hoffnungsvolle Satz im Mail von Titoni-Chef Schluep hin: «Der Markt China hat sich in den letzten Monaten recht gut entwickelt.» Und das obwohl ein neues Anti-Korruptionsgesetz Parteifunktionären verbietet, Geschenke in Form von Luxusuhren anzunehmen. Doch China ist ein Markt, der wächst. Jedes Jahr gibt es Hunderttausende von Chinesen mehr, die sich eine Uhr aus der Schweiz leisten können – und dieses Statussymbol auch wollen.
Unberührt von der Corona-Krise ist ausgerechnet die Marke, die eine Krone im Logo trägt: Rolex. Weil die Auftragsbücher übervoll sind, beträgt die Wartezeit mehrere Jahre. Die meisten anderen Schweizer Uhrenhersteller haben diesen Luxus nicht. Und ganz besonders die Uhren im mittleren Preissegment sind durch Wirtschaftskrise und neue Technologien unter Druck. Die kommenden Monate werden deshalb entscheidend sein.
Die junge Uhrmacherin Rebekka Meier wünscht sich sehr, dass in der Swatch-Werkhalle gegenüber die Kurzarbeit bald ein Ende findet und wieder Leben einzieht. Denn vom guten Ruf der Schweizer Uhren profitiere auch sie. Obwohl sie selber nicht von asiatischen Touristen abhängig ist, hat sie wegen Corona weniger Aufträge. Ihre eher älteren Kunden trauen sich wegen Corona nicht aus dem Haus. Oder schieben die Kosten für eine Reparatur auf. Rebekka Meier: «Manche sagten mir, dass sie Angst haben, dass es bald keine AHV mehr gibt.»
Allen Ängsten zum Trotz. Menschen mit viel Geld wird es immer geben. Und wer Geld hat, will es behalten. Da wiederum kommen neuerdings zwei Spezialgebiete der Schweiz zusammen: Vintage-Uhren als Investment. Es sei sicherer als Gold, sagt man.