Im Januar 2010 berichtete zuerst die «Berliner Morgenpost» über Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg – einem Jesuiten-Gymnasium im Herzen der Hauptstadt. An der Schule war in den 1970er- und 1980er-Jahren von Jesuiten systematischer sexueller Missbrauch verübt worden. Viele Hunderte Betroffene aus weiteren Einrichtungen wie dem Kloster Ettal oder der Odenwaldschule brachen daraufhin ihr Schweigen: Der «Missbrauchsskandal» bewegte Deutschland im Frühling 2010.
Im März 2010 richtete die deutsche Regierung den Runden Tisch «Sexueller Kindesmissbrauch» ein und berief die frühere Familienministerin Christine Bergmann (84) als erste Unabhängige Beauftragte zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
Eine solche unabhängige Institution – die nicht von der Kirche, sondern vom Staat getragen wird – fordert der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, Stefan Loppacher (44), nun auch für die Schweiz.
Unterstützung durch den Staat
Gegenüber Blick sagte er: «Die Bischöfe hatten 20 Jahre Zeit, um bei der Präventionsarbeit vorwärtszumachen. Die Zeit haben sie viel zu wenig genutzt.» Der Bund sollte daher einen unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs in Institutionen ernennen. Der Beauftragte sollte der Kirche regelmässig auf die Finger schauen und überprüfen, ob den Ankündigungen auch Taten folgen. Loppacher ist überzeugt: «Ohne Unterstützung durch den Staat wird die Kirche das nicht schaffen.»
Seit März 2022 ist die ehemalige ZDF-Journalistin Kerstin Claus (54) die Unabhängige Beauftragte in Deutschland. Zu ihren Aufgaben gehört das «Hilfetelefon Sexueller Missbrauch» und das «Hilfeportal Sexueller Missbrauch» im Internet. Claus sensibilisiert die Öffentlichkeit und Mitarbeiter von Organisationen, denen Kinder und Jugendliche anvertraut sind, zu Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie schaut, dass Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt eingeführt und weiterentwickelt werden. Zudem ist in ihrem Amt ein Betroffenenrat angesiedelt, sowie eine unabhängige Kommission zur gesellschaftlichen Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.
Kritik an der evangelischen Kirche
Das Aufgabengebiet ist also keineswegs auf die katholische Kirche beschränkt. Ende Juli etwa rügte Claus den Umgang der evangelischen Kirche mit Fällen sexualisierter Gewalt. «Noch immer gibt es auch regional Regelungen, wonach Betroffene, die Anerkennungszahlungen beantragen, nicht nur die Taten plausibel machen, sondern auch das institutionelle Versagen nachweisen sollen», sagte sie der «Rheinischen Post». Das müsse sich dringend ändern.
Im Gespräch mit Blick hatte der Unternehmer Guido Fluri (57) angeboten, dass seine Stiftung als Meldestelle für Missbrauchsopfer aus dem Umfeld der katholischen Kirche dienen könne. Für Opfer seien die Hürden hoch, sich an jene Organisation zu wenden, welche den Missbrauch ermöglicht habe. Eine unabhängige Stelle sei deshalb besser, und die Guido Fluri Stiftung verfüge über die nötige Fachkompetenz.