Schweizer Volkssport
«Chräbelst du mich noch ein bisschen?»

Es ist so unspektakulär, dass es unterschätzt wird – Chräbelen. Dabei ist, was allabendlich auf vielen Schweizer Sofas geschieht, enorm wichtig: Berührung entspannt, löst Angst und stärkt das Immunsystem.
Publiziert: 08.11.2021 um 17:46 Uhr
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Es geschieht abends auf dem Sofa oder im Bett: Das Kraulen.
Foto: www.plainpicture.com
Aline Wüst

Was die Schweiz im Innersten zusammenhält? Nun, hier könnten kluge Dinge aufgezählt werden. Lassen wir das. Es ist simpel. So einfach, dass wir kaum darüber sprechen. Chräbelen! Je nach Dialekt auch chützle, chrüsele oder kitzle genannt. Wobei der Begriff egal ist. Denn Reden spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Falls Sie nicht wissen, was das ist: Chräbelen geschieht meist am Rücken und ist wie streicheln, aber eben mit den Fingerkuppen respektive den Fingernägeln. In sanften und langsamen Bewegungen wird dabei kreuz und quer über den Rücken gefahren.

Wir haben nachgefragt, was da abends auf den Sofas landauf, landab so los ist. Eine 35-jährige Frau sagt: «Ich tue alles, um gechräbelet zu werden. Ich biete Sachen zum Tausch an. Ich mache die Wäsche, ich mache den Abwasch. Ich komme auch vom Arzt heim und behaupte, er habe gesagt, man müsse mich täglich 20 Minuten chräbelen, dann würden meine Schmerzen weggehen. Im Badezimmer hängt ein Post-it am Lavabo. Darauf eine Nachricht an meinen Partner: ‹Für jedes verspritzte Waschbecken gehen fünf Minuten auf mein Chräbele-Konto.› Ich sage es nochmals ganz klar: Chräbelen ist mir das Wichtigste auf der Welt. Wichtiger als Sex.»

Was witzig tönt, ist gar nicht so falsch. Dazu wird später ein Tastsinnforscher aus Deutschland ausführlich reden. Jetzt aber zuerst ein zweiter intimer Blick in heimische Stuben.

Mann, 30 Jahre: «Sie sagt jeweils: ‹Schätzli, chräbelst du mich später noch?› (Sie will immer gechräbelet werden!) Ein Klassiker ist am Sonntagabend. Ich schaue da gern die Zusammenfassung der Bundesligaspiele. Sie interessiert das nicht. Wir machen es so: Ich schaue und chräbele sie derweilen. So sind wir beide zufrieden.»

Partnerin, 29 Jahre: «Es entspannt mich einfach so, danach kann ich gut schlafen. Es ist ein Gefühl der Geborgenheit. Und es erinnert mich an meine Kindheit. Meine Mutter und auch meine Grossmutter haben mich gechräbelet.»

Er: «Sie legt sich dann auf das Sofa neben mich. Nach einer halben Stunde dreht sie sich, nach einer Weile wechselt sie auf die andere Seite, sagt: ‹So kannst du auch noch mit der anderen Hand die andere Seite chräbelen.› Manchmal hebt sich auch noch einen Arm. Dann chräbele ich auch dort.»

Sie: «Er macht es perfekt. Er konnte das von Anfang an.»

Er: «Ich muss übrigens immer zwei Minuten vorher ankünden, wenn ich aufhören will. Wenn ich das nicht tue, wird sie wütend. Ich selbst habe nicht viel davon, zu chräbelen. Ich mache es einfach, weil ich weiss, dass sie es so gern hat.

Dass es hier zwei Frauen sind, die gechräbelt werden wollen, ist Zufall. Mit dem Geschlecht hat das nichts zu tun. Der Kern ist ein anderer – die Berührung.

Die lang andauernde Berührung

An der Universität Leipzig gibt es ein Labor für Haptik. Gegründet und noch immer geleitet wird es von Martin Grunwald, der das Buch «Homo hapticus» geschrieben hat und sich seit 30 Jahren professionell mit dem Tastsinn auseinandersetzt. Dieser Mann wird also bestimmt auch etwas zum Chräbelen sagen können. Wir vereinbaren ein Telefongespräch. Zuerst entsteht eine kurze Begriffskonfusion. «Chräbelen» kennt der Deutsche nicht. Wir finden trotzdem schnell heraus, was damit gemeint ist. In korrektem Hochdeutsch heisst es Kraulen. «Na klar», sagt Grunwald dann, «wer in einer Beziehung ist, der krault!»

Um die Bedeutung des Kraulens zu verstehen, muss Grunwald zuerst erklären, was bei einer Berührung geschieht. Denn schliesslich ist Kraulen genau das: eine lang andauernde Berührung.

Er sagt es so: Werden die tastsensiblen Rezeptoren in der Haut angeregt, senden sie elektrische Signale Richtung Gehirn. Dort verändert sich nun Hirnaktivität wie auch der neurochemische Zustand. Das Gehirn schüttet Hormone aus, die übers Blut die anderen Bereiche des Körpers erreichen. Mit Folgen: Die Herzfrequenz wird verändert, die Atmung langsamer und tiefer, die Muskulatur entspannt sich, das Stresslevel und der Blutdruck sinken, die Blutgefässe erweitern sich, Angst wird reduziert. Grunwald sagt: «Jede Berührung ist ein biologisches Grossereignis.»

Berührung ist ein Lebensmittel

Er muss noch weiter ausholen: «Berührungsreize sind für Wachstums- und Entwicklungsprozess essenziell.» Ohne Berührung wächst kein nesthockendes Säugetier – und genau das sind wir Menschen. Grunwald bezeichnet Berührungen darum auch als «Lebensmittel». Das ist noch nicht so lange klar. Noch in den 1950er-Jahren propagierte die Medizin die Einhaltung eines sehr restriktiven Körperkontakts – aus Sorge vor Infektionskrankheiten. Einfach gesagt: Berührt wurde ein Baby nur, wenn gestillt wurde. Empirische Befunde aus Waisenhäusern zeigten jedoch, dass Säuglinge starben, obwohl sie Nahrung erhielten und sauber und warm gehalten wurden. «Dass körperliche Nähe einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Kindes haben könnte, erschien angesichts der vielen medizinischen Erfolge in Bezug auf Kindersterblichkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu als absurd.» Heute wird jeder Mutter das Baby auf die Brust gelegt, sobald es auf der Welt ist.

Berührung, sagt Grunwald, wirke sich auf der psychischen wie auch auf der körperlichen Ebene extrem wohltuend aus. Und habe nachgewiesenermassen sogar einen positiven Effekt auf das Immunsystem. Bedeutet also: Wer viel gekrault wird, hat das bessere Immunsystem.

Das sind gute Nachrichten für alle Gekraulten da draussen. Bloss schlafe die Medizin, sagt Grunwald. Der Tastsinn friste ein Nischendasein in der Wissenschaft. Im Gegensatz zu anderen Sinnen wie Hören und Sehen. Dabei zeige sich: Bei vielen psychiatrischen, aber auch bei organischen Erkrankungen seien Berührung oder Körperstimulationen absolut hilfreich und hätten den Status medizinischer Interventionen. Es gebe Psychiater in Deutschland, die Menschen mit Depressionen oder Angststörungen Physiotherapie verschreiben. Das Problem: Höre ein Standardmediziner das, nehme er die Beine in die Hand. Medizin heisse noch immer pharmakologische Intervention oder Chirurgie. Erzähle er nun einem Mediziner, was Berührung alles vermag, schimpfe der ihn einen Esoteriker. Grunwald kann es verstehen: «Hinter der klassischen Medizin steht eine lange Denktradition, in der Fühlen keinen Stellenwert hatte. Und eine einflussreiche Pharmaindustrie, die kein Interesse an solchen Entwicklungen hat.» – Eine Umarmung lässt sich nicht zu Geld machen.

Ein Leben ohne Kraulen? Horror!

Auf die Frage, was das für ein Gefühl wäre, von nun an nie mehr in seinem ganzen Leben gekrault zu werden, sagt ein 32-jähriger Mann schlicht: «Horror!» Eine 40-Jährige hat noch etwas anders anzumerken: «Je länger die Fingernägel sind, desto besser. Ich glaube, ich habe deswegen eine Aversion gegen abgekaute Fingernägel, weil das keine guten Krauler sind.»

Einig sind sich die Gekraulten, dass der Krauler mit dem Kopf bei der Sache sein muss. Sonst ist es nicht schön.

Erklären kann selbst Grunwald nicht, warum der Effekt verschwindet, wenn der Krauler mit den Gedanken woanders ist. Wahrscheinlich, weil es dann mechanisch werde. «Es ist robotermässig, und das spüren wir irgendwie.» Was er und sein Team allerdings gerade erforschen, ist, ob auch der Krauler etwas davon hat, stundenlang den Rücken seiner Mitmenschen hoch- und runterzufahren. Resultate gibt es noch keine. Aber es deute viel darauf hin, dass auch der Krauler positive Effekte verspürt, sagt Grunwald. Dinge wie Sicherheit, Vertrautheit und Nähe. Klar ist: Es vertreibt die Einsamkeit bei beiden. «Die körperliche Anwesenheit eines anderen Menschen ist der ultimative Beweis dafür, dass wir wirklich nicht allein sind auf dieser Welt.» Und eine Berührung wiederum löse so grosse und starke biologische Reaktionen aus, dass es für uns Menschen letztlich keinen Ersatz dafür gebe. «Da können sie noch so lange Netflix gucken oder am Handy rumdaddeln. Das führt körperlich zu nichts.»

Im Gegenteil. Ohne Berührung nehmen bei uns Menschen Unruhezustände, Angst, Aggressionen, Schlafstörungen und sogar Depressionen zu.

Grunwald hält deshalb fest: «Kraulen ist eine ganz wunderbare Sache.» Es öffnet eine Art körpereigene Apotheke. Das sei gut für die Beziehung und Medizin für Körper und Seele.

Nun, zögern Sie also nicht, Ihre Mitmenschen etwas öfters zu fragen: «Chräbelst du mich noch ein bisschen?» Denn es ist wissenschaftlich erweisen: Sie werden dadurch glücklicher, friedlicher und gesünder. Ganz ohne Nebenwirkungen.


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