Von Pascal Strupler war in den letzten Monaten wenig zu hören. Gestern meldete sich der Direktor des Bundesamts für Gesundheit plötzlich online zu Wort. «Die Anzahl Neuinfizierter steigt in den letzten Tagen wieder an. Beunruhigend!», schrieb der oberste Gesundheitsbeamte auf Twitter. Gestern Samstag registrierte Struplers BAG 69 Neuinfektionen. Zum fünften Mal in Folge steigen die Zahlen an, ähnlich wie Ende Februar – kurz bevor sie explodierten.
Nur: Sollten die Erkrankungen tatsächlich wieder sprunghaft zunehmen, wäre die Schweiz ungenügend vorbereitet. Das zeigt eine Umfrage von SonntagsBlick bei allen 26 Kantonen.
Die Bündner Kantonsärztin Marina Jamnicki teilt mit, in Graubünden müsse die Massnahmenplanung für eine mögliche zweite Welle «bis Ende August» fertiggestellt sein – also frühestens in zwei Monaten. Aus dem von Corona bislang am stärksten betroffenen Kanton Tessin heisst es, man werde «in den kommenden Wochen» an solchen Dossiers arbeiten. Bis wann ein Konzept stehen soll, bleibt offen.
Generelle Massnahmen sind getroffen, Detailkonzepte fehlen
Unklar auch, wie die Kantone gegen einen lokalen Infektionsherd vorgehen wollen. Konkrete Fälle wie der Ausbruch in einer deutschen Fleischfabrik im nordrhein-westfälischen Gütersloh, bei dem mehr als 1500 Arbeiter positiv getestet wurden, werden in den kantonalen Konzepten kaum berücksichtigt.
So lässt der Kanton Uri wissen, es gebe keine detaillierten Pläne für einen lokalen Ausbruch. Generelle Massnahmen aber seien bereits getroffen worden, «zum Beispiel die Festlegung der Zuständigkeiten».
In Glarus wird kommende Woche über ein sogenanntes Rebound-Konzept beraten. Hinweise, was das sein soll, gibt es nicht. Andere Kantone verweisen darauf, dass sie die Situation laufend beobachten und allenfalls Anpassungen vornehmen würden. Sie setzen vor allem auf Contact Tracing, die Rückverfolgung der Infektionsketten.
Nicola Low, Epidemiologin an der Uni Bern, begrüsst zwar die Konzentration aufs Contact Tracing, sagt aber auch: «Wir müssen eine zweite Welle verhindern. Das heisst proaktiv handeln.» Würden Kontrollen gelockert, müsse dies durch andere Schritte ausgeglichen werden.
Nicola Low: «Das bedeutet, dass wir mehr Tests, Rückverfolgung, Isolierung und Quarantäne durchführen müssen. Es braucht zudem eine Maskenpflicht und Massnahmen an der Grenze.»
Übernimmt der Bund wieder mehr Verantwortung?
Für den Fall, dass sich das Virus erneut weiter ausbreitet, wünschen sich einige Behörden, dass der Bund wieder mehr Verantwortung übernimmt. Lukas Engelberger, Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), formuliert es so: «Bei einem grossen Ausbruch müsste der Bundesrat nachschärfen. Das kann er in der besonderen Lage.»
Andere Kantonsvertreter äusserten sich diese Woche allerdings skeptisch, ob es im Falle einer erneuten Umverteilung der Zuständigkeiten nicht zu einem Kompetenzgerangel zwischen Bund und Kantonen kommen könnte.
Nationale Regelung zur Maskenpflicht im ÖV bleibt wohl aus
Und wie steht es um die Frage der Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr? Ueli Stückelberger, Direktor des Verbands öffentlicher Verkehr, sagt: «Wir wären froh um eine nationale Regelung. Wenn einzelne Kantone von sich selbst aus agieren, ist das schwierig, vor allem bei nationalen Verbindungen. Wir möchten Verwirrungen bei den Kunden vermeiden.»
Gerade diese Verwirrung jedoch scheint programmiert: Punkto Maskenpflicht gehen die Meinungen der Kantone auseinander. So bekennt sich der Genfer Gesundheitsdirektor Mauro Poggia in der «NZZ» zur Maskenpflicht. Eine Quelle des Gesundheitsamts bestätigt gegenüber SonntagsBlick, dass Diskussionen im Gange sind. Eine Entscheidung könnte diese Woche fallen – notfalls im Alleingang. Der Jura befürwortet eine Pflicht und hat sich dafür auch beim Bund eingesetzt. Momentan verzichte man auf ein Obligatorium und appelliere an die Eigenverantwortung.
Andere Kantone befürworten eine Maskenpflicht – allerdings nur in Koordination. «Aus fachlicher Sicht ist eine Maskenpflicht im ÖV zu begrüssen», heisst es in Uri. Ähnlich äussern sich Luzern und Zug. Die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli hingegen hält eine Maskenpflicht für wenig sinnvoll, wie sie am Freitag erklärte. Sie befürchtet, dass die Bevölkerung bei einer Maskenpflicht wohl nicht mitmachen würde. In Solothurn und Freiburg war ein Obligatorium ebenfalls keine Option – jedenfalls nicht bis gestern.
Das Chaos scheint vorprogrammiert
Angesichts dieses föderalistischen Flickenteppichs sagt der Sprecher der kantonalen Gesundheitsdirektorenkonferenz: «Die Kompetenz zur Anordnung einer allfälligen Maskenpflicht in den öffentlichen Verkehrsmitteln liegt bei den Kantonen. Ein schweizweiter Entscheid dazu ist aktuell nicht geplant.» Es wäre allerdings «erstrebenswert», dass sich die Kantone untereinander absprechen.
Das Bundesamt für Gesundheit wiederum teilt mit, dass nicht nur die Kantone, sondern auch die ÖV-Betriebe und der Bund eine Maskenpflicht einführen könnten. Man spreche zwar miteinander, heisst es, theoretisch könnte eine solche Massnahme aber auch ohne Absprachen ergriffen werden.
Das heisst: Sollte ein Kanton in den nächsten Tagen vorpreschen, ist das Chaos vorprogrammiert.
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