Daten, Daten, Daten! Die Schweizer können gar nicht genug davon kriegen. Jedes Jahr verdoppelt sich der Verbrauch. Corona hat den Trend zusätzlich verschärft: Homeoffice, Homeschooling, TV und Entertainment – der Lockdown brachte die Telekominfrastruktur an den Anschlag.
Corona verstärkte aber auch Ängste. Esoteriker und Fantasten verkünden, dass das alles miteinander zusammenhänge: Corona, Bill Gates, die neuen Technologien. Und finden immer mehr Gehör.
Die Viruskrise verdeutlicht die Vorzüge der Digitalisierung – und befeuert die Furcht davor. Besonders klar zeigt sich dieses Paradox am Beispiel von 5G: Die fünfte Generation des Mobilfunkstandards soll den Datenverkehr zwischen Handy und Antenne regeln, aber auch das Internet der Dinge zum Fliegen bringen – also selbstfahrende Autos oder smarte Heizungssysteme. 5G ist zehnmal schneller als der heutige Standard und überträgt in der gleichen Zeit 100-mal mehr Daten.
Zwei Prozent nutzen 5G
Nur: Das ist Zukunftsmusik – bestenfalls. Zwar gehörte die Schweiz im Februar 2019 zu den ersten Staaten der Welt, die 5G-Frequenzen an Mobilfunkanbieter versteigerten. Swisscom, Sunrise und Salt überfluteten die Kunden sogleich mit gewaltigen Werbekampagnen. «Doch heute nutzen kaum mehr als zwei Prozent der Schweizer Bevölkerung 5G», sagt Telekomexperte Ralf Beyeler (42).
Die Branche macht die bestehenden Strahlengrenzwerte für Mobilfunkantennen verantwortlich: Nur mit deren Erhöhung lasse sich ein flächendeckendes 5G-Netz einführen. Doch mit dieser Forderung beissen die Telekomriesen in Bundesbern auf Granit. Nachdem sich das Parlament zweimal dagegen ausgesprochen hatte, verkündete im April auch der Bundesrat: Keine Erhöhung der Grenzwerte!
Die Politik reagiert damit auf eine Protestwelle, die nach der Vergabe der Frequenzen durchs Land ging. Unter dem Banner «Stopp 5G!» zogen Demonstranten in vielen Städten durch die Strassen. Vor dem Bundeshaus protestierten Tausende gegen «Zwangsbestrahlung».
Daraus erwuchs keine einheitliche Bewegung, sondern ein Sammelsurium lokaler Gruppierungen – klein, aber lautstark. Was sie verbindet: Der Kampf gegen die Wirkung elektromagnetischer Strahlen.
«Sie beeinflussen die Hirnströme», sagt Rebekka Meier (29), Präsidentin des Vereins Schutz vor Strahlung. «Sie vermindern die Kraft der Lunge und beeinträchtigen die Herztätigkeit, wirken sehr wahrscheinlich krebserregend und verursachen permanente Entzündungen.» Eine Erhöhung der Grenzwerte ist für Meier keine Option, im Gegenteil: «Sie müssen gesenkt werden!»
Elektrosmog sorge für Schlafstörungen
Das fordern gleich mehrere Volksinitiativen unterschiedlicher Gruppierungen. Eine von ihnen ist die Umweltorganisation Frequencia. Vorstandsmitglied Peter Schlegel (78) misst seit 20 Jahren nicht ionisierende Strahlung – Elektrosmog, der von Stromleitungen, Haushaltsgeräten und Mobilfunkantennen ausgeht. Der ETH-Ingenieur sagt: «In der Umgebung jeder Antenne gibt es Menschen, die an Schlafstörungen, Kopfschmerzen und anderen Beschwerden leiden. Es überrascht nicht, dass fast gegen jede neue Antenne Einsprache erhoben wird.»
Die Telekombranche hält dagegen: «Seit 20 Jahren gibt es Mobilfunk weltweit», sagt Salt-CEO Pascal Grieder (43), «doch es gibt keine Anzeichen schädlicher Folgen.» Swisscom-Chef Urs Schaeppi (60) betont: «In der Schweiz gelten für Büros, Kinderspielplätze und Wohnungen sogar zehn Mal strengere Grenzwerte als die von der WHO bestätigten.» Sunrise-Boss André Krause (50) greift im Interview mit SonntagsBlick den Bundesrat sogar frontal an: Er sei zu passiv und trage Mitverantwortung für die Blockade beim Ausbau von 5G.
Kommende Woche empfängt Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60), Vorsteherin des Departements für Kommunikation, die drei Chefs in Bern zu einer Aussprache. Keine Frage: Die Telekomvertreter werden mit harten Bandagen kämpfen.
Unterstützung erhält die Branche von ihrem obersten Überwacher: Stephan Netzle (62) ist Präsident der Eidgenössischen Kommunikationskommission Comcom, die im Auftrag des Bundesrats die Frequenzen vergab.
Frequenzen ohne Bedingungen vergeben
Als die Regierung im April eine Erhöhung der Grenzwerte ablehnte, platzte ihm der Kragen: «Ich kam mir vor wie ein Ramschverkäufer», sagt Netzle zu SonntagsBlick. «Der Staat hat zwar die Frequenzen vergeben – aber er hat es unterlassen, die notwendigen Rahmenbedingungen zu ihrer Nutzung zu schaffen.»
Die Kantone Genf, Waadt und Jura verfügten inzwischen einen Baustopp für 5G-taugliche Antennen, andere schieben Baubewilligungen seit Monaten auf die lange Bank. Grund: Den Kantonen fehlen die nötigen Messrichtlinien. Immerhin: Das Bundesamt für Umwelt will diese Richtlinien in Kürze vorlegen.
- 2 % der Schweizerinnen und Schweizer nutzen 5G
- 19'589 Mobilfunkantennen wurden bis heute in der Schweiz gebaut
- 5 Volt pro Meter beträgt der Grenzwert für Schweizer Mobilfunkanlagen
- 3117 5G-Antennen stehen bis jetzt auf Schweizer Boden
- 2 % der Schweizerinnen und Schweizer nutzen 5G
- 19'589 Mobilfunkantennen wurden bis heute in der Schweiz gebaut
- 5 Volt pro Meter beträgt der Grenzwert für Schweizer Mobilfunkanlagen
- 3117 5G-Antennen stehen bis jetzt auf Schweizer Boden
Auch in die Diskussion um Grenzwerte ist Bewegung gekommen. Im Parlament wurden mehrere Vorstösse zu ihrer Erhöhung lanciert, unter anderen von den Grünliberalen. Deren Nationalrätin Katja Christ (48) arbeitet an einer Motion, die eine temporäre Erhöhung der Sendeleistung bei gleichzeitiger Verdichtung des Antennennetzes fordert.
Doch selbst für den Fall, dass die Grenzwerte irgendwann erhöht werden, ist flächendeckendes 5G deswegen noch lange nicht Realität. Dann nämlich wird für sämtliche Antennen, deren Sendeleistung zur Ausschöpfung des neuen Grenzwerts erhöht werden soll, eine erneute Baubewilligung fällig, wie das Bundesamt für Umwelt auf Anfrage von SonntagsBlick bestätigt. Brancheninsider sind sich einig, dass weder die Politik noch die Branche diese Hürde bislang auf dem Schirm hatten.
«Anwälte würden sich freuen»
20'000 Antennen stehen heute im Land. Kein Zweifel: Es wird Einsprachen am Laufmeter hageln. «Natürlich würden sich die Anwälte freuen», sagt Salt-Chef Pascal Grieder. Doch dieses Szenario sei ihm lieber als eine Schweiz ohne 5G.
5G-Kritiker wie Martin Forte (57) sehen das naturgemäss anders. «Für die fortschreitende Digitalisierung ist ein flächendeckendes 5G-Mobilfunknetz nicht zwingend», sagt der Geschäftsleiter der Organisation Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz. «Das lässt sich auch mit einem superschnellen Glasfasernetz machen.» 70 Prozent der Handynutzung, so Forte, finde ohnehin in Innenräumen statt. «Wenn wir die Handys, Tablets und Laptops mit dem Glasfasernetz verbinden, braucht es viel weniger Funkmasten.»
Die Thurgauer CVP-Ständerätin Brigitte Häberli-Koller (62) unterstützt diese Vorstellung. «Damit werden nicht alle Antennen überflüssig», sagt die Verfasserin einer Interpellation für ein nachhaltiges Mobilfunknetz. «Aber es ist eine Alternative, die wir weiter erforschen müssen.»
Häberli-Koller ist Vizepräsidentin des Hauseigentümerverbandes (HEV), der sich ebenfalls gegen die Erhöhung der Grenzwerte ausspricht. «Ich bin nicht gegen 5G», betont die Ständerätin. «Aber ich gewichte die Unsicherheit in der Bevölkerung hoch.»
Gelingt es den Verfechtern von 5G nicht, das verbreitete Unbehagen demnächst auszuräumen und Kompromissfähigkeit zu signalisieren, ist der Totalausfall der schönen neuen 5G-Welt programmiert.