Das Fest der Liebe steht bevor. Na dann prost! Niemals zelebrieren Schweizer den Alkoholkonsum mehr als ab jetzt bis Silvester. Es ist die Zeit der Büro-Apéros, Adventsgelage und Glühweinrunden.
Auch wenn nicht jeder den beruhigenden und entfesselnden Effekt von Ethanol mag, dem Hauptwirkstoff in alkoholischen Getränken, steht fest: Die meisten Schweizer lassen nichts zwischen sich und ihr liebstes promillehaltiges Getränk kommen.
7,7 Liter reinen Alkohol trinkt jeder Schweizer gemäss Eidgenössischer Zollverwaltung im Durchschnitt pro Jahr. Die reinen Liter verteilen sich auf 55,6 Liter Bier, 32,3 Liter Wein, 3,6 Liter Spirituosen und 1,7 Liter Apfelwein pro Bewohnerin und Bewohner.
Rauschtrinken: Fünf Bier oder mehr
Im europäischen Vergleich bewegt sich die Schweiz im mittleren Bereich – der tägliche Konsum ist bei uns seit vielen Jahren rückläufig. Was zugenommen hat, ist das sogenannte Rauschtrinken, und zwar in allen Altersgruppen und bei beiden Geschlechtern. Gut jeder fünfte Schweizer trinkt ab und an zu viel.
Zu viel – das ist laut Definition bei Männern der Konsum von fünf oder mehr, bei Frauen von vier oder mehr Gläsern Bier, Wein oder Schnaps.
Eine gross angelegte Untersuchung von Sucht Schweiz aus dem Jahr 2018 weist darauf hin, dass die Zunahme des Rauschtrinkens mit den Anforderungen im Beruf zu tun haben könnte, die in den vergangenen 25 Jahren stark gestiegen sind.
Fit sein ist unter der Woche alles
Über Mittag mit den Arbeitskollegen eine Flasche Wein leeren und danach einen Nachmittag lang pro forma die Computermaus hin- und herbewegen – das kann sich heute fast niemand mehr leisten.
Nach der Arbeit gehts zum Sport – in Form sein gilt heute als Statussymbol. Anstelle eines abendlichen Glas Rotweins gibts einen Proteindrink.
Plötzlich ist Wochenende – zwei Tage, an denen Schweizerinnen und Schweizer endlich tun können, worauf sie im Alltag verzichten müssen. Warum sich jetzt noch mässigen?
Die Besinnlichkeit muss warten
In der Adventszeit nimmt der Druck nochmals zu. Nicht nur Berufstätige kennen das Gefühl, dem Jahresende entgegenzurennen. In einem Hamsterrad.
Halloween ist gerade überstanden, jetzt stehen die Laternenumzüge der Kinder an, dann das Weihnachtsspiel. Mit den Geschenken hinkt man heillos hinterher, für die Winterferien ist noch kein Hotel gebucht – und dann noch dieses ungute Kratzen im Hals. Vielleicht wäre die Grippeimpfung doch keine so schlechte Idee gewesen …
Volksdroge Alkohol
Eine Einladung zu einem Umtrunk kommt in so einem Moment gelegen. Nicht umsonst sind die Feste, die auf einen ungünstigen Zeitpunkt fallen, immer die besten. «Ich bin Gelegenheitstrinker – ich trinke bei jeder Gelegenheit», heisst ein nicht sehr lustiger Witz. In der Adventszeit wird er zum Motto.
Wenn wir die schönen Gläser hervorholen
«Menschen aus allen Kulturen kennen das Bedürfnis nach einem Rauschzustand seit Urzeiten», sagt Mario Erdheim (79). «Früher war er mit dem Wunsch verbunden, Göttern und Geistern näher zu sein.» Der Psychoanalytiker erforscht unter anderem die Bedeutung gesellschaftlicher Rituale, zu denen auch Aspekte des Trinkens gehören.
Ein Rausch sei immer etwas Gefährliches, sagt Erdheim, eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung. «Damit es nicht so weit kommt, gibt es Rituale, die dem Alkoholkonsum einen Rahmen geben.» So theoretisch das klingen mag, so selbstverständlich feiern wir diese Rituale – vor allem in der Weihnachtszeit.
Indem wir den Glühwein mit Freunden auf dem Weihnachtsmarkt konsumieren und nicht alleine zu Hause vor dem Fernseher. Indem wir die schönen Gläser aus dem Schrank holen – für jede Art von Alkohol ein spezielles in einer anderen Grösse oder Form. Indem wir den Cognac nach dem Braten in kleinen Schlückchen geniessen und nicht auf einmal hinunterstürzen.
Party der Peinlichkeiten
Dass trotz Ritualen ein Risiko bleibt, zeigt sich am besten an der Weihnachtsfeier mit dem Geschäft. Jeder kennt die peinlichen Storys, die sich Mitarbeiter noch Jahre später erzählen. Von sturzbetrunkenen Männern, die in der WC-Kabine einschlafen, bis jemand sie zu vermissen beginnt. Von Frauen, die sich an einem Mikrofon als Whitney Houston versuchen und am nächsten Tag heiser zur Arbeit erscheinen.
«Kein Alkohol (ist auch keine Lösung)!», heisst ein Song der Toten Hosen, der Mitarbeiter von Präventionsstellen wütend macht – aber auch andeutet, wie schwierig es in unserer Gesellschaft ist, nicht mitzutrinken.
Nüchtern und einsam
Broschüren geben Arbeitgebern heute Tipps, wie sich Mitarbeiter, die trocken bleiben wollen oder müssen, an Firmenfesten nicht ausgeschlossen fühlen. Zum Beispiel, indem man ihnen alkoholfreie Cocktails anbietet, die etwas mehr hergeben als ein Glas Orangensaft aus dem Tetrapak.
Dass es sich lohnt, Feste nüchtern zu besuchen, sagen die Anhänger der jungen, hippen Bewegung Sober Curious, die in den sozialen Medien einen betäubungsmittelfreien Lifestyle zelebrieren. Wie der Name sagt, geht es dabei um Menschen, die neugierig aufs Nüchternsein sein. An Weihnachten eine einsame Angelegenheit.
Weniger Konsum, aber mehr Rauschtrinkerei. Alkoholismus ist die Sucht, die unsere Gesellschaft noch immer am meisten kostet. Die grosse BLICK-Serie mit neuen Zahlen, erschütternden Schicksalen und wertvollen Tipps.
Weniger Konsum, aber mehr Rauschtrinkerei. Alkoholismus ist die Sucht, die unsere Gesellschaft noch immer am meisten kostet. Die grosse BLICK-Serie mit neuen Zahlen, erschütternden Schicksalen und wertvollen Tipps.