Schockzahlen aus Grossbritannien
Tausende Todesfälle wegen Medikament? So sieht es in der Schweiz aus

In Grossbritannien häufen sich Todesfälle im Zusammenhang mit dem verschreibungspflichtigen Medikament Pregabalin. Was dahinter steckt – und wie die Lage in der Schweiz aussieht.
Publiziert: 07.03.2024 um 20:53 Uhr
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Aktualisiert: 07.03.2024 um 21:01 Uhr
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Ein Arzneimittel führt in der britischen Bevölkerung zu grosser Abhängigkeit. (Symbolbild)
Foto: IMAGO/Lobeca
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Sandra MeierJournalistin News

Ein Medikament sorgt in Grossbritannien für Verunsicherung. In den vergangenen fünf Jahren wurden knapp 3400 Todesfälle mit dem Arzneimittel Pregabalin in Verbindung gebracht, wie eine Recherche der «Sunday Times» zeigt. Lag die Zahl 2012 noch bei neun Todesfällen, stieg sie zehn Jahre später 2022 bereits auf fast 780 an. Es handelt sich gemäss Zeitung um die am schnellsten steigende Zahl an Todesopfern im Zusammenhang mit Betäubungsmitteln in Grossbritannien. 

Ursprünglich kam Pregabalin zur Behandlung von Epilepsie auf den Markt. Mittlerweile wird das Arzneimittel aber auch bei Angstzuständen und Nervenschmerzen verschrieben. Die Liste der Nebenwirkungen ist lang. Es kann zu Schwindel, Vergesslichkeit oder auch Atemnot kommen.

Und besonders problematisch: Das Medikament löst eine euphorische Stimmung aus und kann abhängig machen. Die Folge: Suchtkranke können die Einnahme des Wirkstoffs nicht mehr kontrollieren, sie erhöhen oft eigenmächtig die Dosis. Oder kombinieren das Medikament mit anderen Betäubungsmitteln – mit fatalen bis tödlichen Folgen. Gemäss Betroffenen ist ein Entzug von Pregabalin mit dem von Morphium vergleichbar: Sie gehen durch die Hölle.

Zuerst Euphorie – dann der tiefe Fall

So etwa die Krankenschwester Debbi Lou (45), die in der Nähe von Manchester lebt. Bei einem Autounfall wurde ihre untere Wirbelsäule verletzt. Als ihr Arzt Pregabalin verschrieb, war die Mutter einer sechsjährigen Tochter zunächst ahnungslos – und positiv überrascht vom Effekt des Medikaments: «Es haute mich von den Socken. Aber nach einem Monat schwand das euphorische Gefühl und meine Angst kehrte um das Zehnfache zurück», sagt sie gegenüber der Zeitung.

Die Frau begann, die Dosis des Medikamentes zu erhöhen. Schwindel, Müdigkeit und Erinnerungslücken waren die Folge. Als Debbi Lou sogar vergass, ihre kleine Tochter von der Schule abzuholen, zog sie einen Schlussstrich. Doch der Entzug brachte die Krankenschwester an Rande der Verzweiflung: «Du zitterst, du kannst nicht schlafen, nicht essen. Da ist Erbrochenes, Durchfall, Angst. Du fühlst dich wirklich, als würdest du sterben.»

Monate später ist die Krankenschwester clean und unterstützt andere mit Alkohol- und Drogenproblemen. Gegen ihren Arzt, der sie nicht über die Gefahren der Behandlung aufgeklärt habe, erhebt sie Vorwürfe: «Ich habe ihm vertraut, dieses Vertrauen wurde zerstört.»

Schweiz: Nur 17 Verdachtsmeldungen zu einem Todesfall

Auch in der Schweiz ist der Wirkstoff Pregabalin zugelassen, um Epilepsie, Nervenschmerzen und Angststörungen zu behandeln. Zahlen von der Aufsichts- und Zulassungsbehörde Swissmedic zeigen jedoch: Pregabalin allein führt nicht zu einer Häufung von Todesfällen. «Seit 2005 sind Swissmedic insgesamt 17 Verdachtsmeldungen zu einem Todesfall eingegangen», heisst es auf Anfrage von Blick. Die Zahlen seien stabil. Es habe weder einen Anstieg der Meldungen gegeben, noch seien Auffälligkeiten erkennbar, so der Swissmedic-Mediensprecher.

Aber: Die Verschreibungen von Pregabalin haben zugenommen. Eine 2020 erschienene Studie, die im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG) durchgeführt wurde, kam zum Schluss, dass nicht nur der Verbrauch deutlich anstieg, sondern sich auch die Anzahl der Behandlungstage erhöhte. Damit steigt auch der Missbrauch, wie der Pharma-Dienst «Swissdocu» berichtet. Die Giftberatung «Tox Info Suisse» verzeichnet einen Anstieg an Notrufen wegen Pregabalin. Von gerade mal 30 im Jahr 2006 auf 229 Anfragen im vergangenen Jahr.

Wie gross die Suchtgefahr hierzulande ist und wie sie sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat, kann Sucht Schweiz auf Anfrage nicht beantworten: «Leider haben wir für die Schweiz keine verlässlichen Informationen diesbezüglich.» 

«Schweiz in einer privilegierten Situation»

Die Situation in der Schweiz ist aber weniger dramatisch als in Grossbritannien, wie Yvonne Gilli, Präsidentin der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte bestätigt. So würden sich internationale Entwicklungen in der Regel zwar hierzulande zeigen, aber meist weniger ausgeprägt. Als Grund nennt sie etwa die unterschiedliche sozioökonomische Situation. Gilli zu Blick: «Ohne Millionenstädte und mit einem sehr gut ausgebauten Sozialsystem und Expertise in der Suchtbetreuung ist die Schweiz im internationalen Vergleich in einer privilegierten Situation.»

Eine schwedische Studie aus dem Jahr 2019 kam zum Schluss, dass bei der Einnahme von Pregabalin ein erhöhtes Risiko von Suizidalität und unbeabsichtigte Überdosierungen zur Folge haben kann. Studienteilnehmer der Altersgruppe 15 bis 24 Jahren zeigten dabei das höchste Risiko.

Gemäss «Times UK» wurde in Grossbritannien über acht Millionen Britinnen und Briten allein 2022 ein Rezept für Pregabalin ausgestellt. Ein Jahr zuvor hatte die britische Gesundheitseinrichtung «National Institute for Health and Care Excellence» Ärzte aufgefordert, ihre Sicherheitsmassnahmen bei der Verschreibung von Schmerzmitteln und abhängig machenden Medikamenten zu verbessern. Offenbar vergeblich. Trotz Warnungen nehmen die Verschreibungen weiter zu. Doch es gibt auch Ärzte, die die Entwicklung kritisch betrachten. Einer wählt deutliche Worte: «Pregabalin zu verschreiben, ist, wie ein Auto ohne Bremsen zu verkaufen.» 

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