Im Dunkeln auf dem Heimweg von der Arbeit zuckt Rolf Padlina (62) zusammen, wenn er hinter sich ein Geräusch hört. «Ich habe noch immer Angst, dass ich aus dem Nichts angegriffen und gewürgt werde», sagt der Teamleiter auf einem Grundbuchamt. Noch schlimmer: Er traut sich kaum mehr in ein Spital, obwohl es fast ein Jahr her ist, dass er auf der Notaufnahme im Stadtspital Triemli in Zürich von einem psychisch kranken Patienten grundlos angegriffen und gewürgt wurde. Er ist enttäuscht, dass er nach der Attacke kaum Hilfe erhielt, der Täter hingegen therapiert wurde. «Da stimmt etwas nicht», sagt er.
Der Mann wanderte rastlos herum
An dem verhängnisvollen Sonntag, dem 29. Januar 2023, landete der leitende Sachbearbeiter auf der Notaufnahme im Stadtspital Triemli, weil er an fürchterlichen Schmerzen wegen Nierensteinen litt. Er kam in den klassischen Warteraum mit mehreren Betten, die mit Vorhängen voneinander getrennt sind. «Ein Mann fiel mir gleich auf», sagt Padlina. «Er wanderte rastlos im Raum und in den Gängen hin und her. Eine Pflegefachfrau wies ihn mehrmals zurecht. Sie sagte ihm auch, dass er aufhören soll, Drogen zu nehmen.»
Völlig unerwartet trat der Mann an Padlinas Bett und packte ihn mit beiden Händen am Hals. «Zum Glück konnte ich noch um Hilfe rufen», sagt Padlina. «Das Pflegepersonal kam sofort und brachte den Angreifer weg.» Doch für den Zürcher war der Horror noch lange nicht zu Ende. Er sagt: «Ich stand unter Schock. Aber schlimmer ist die Traumatisierung. Die Symptome entwickelten sich erst Tage später.» Weil es dem Patienten auf den ersten Blick gut ging, wurde er nach einem MRI noch am selben Tag nach Hause geschickt.
Der Mann verhielt sich danach kooperativ
Die Verlaufsübersicht des Spitals liegt Blick vor. Sie bestätigt die Attacke. In dem Protokoll steht, dass der Täter in psychotischem Zustand eingeliefert und nach der Attacke in einen Spezialraum gebracht wurde. Der Mann habe sich kooperativ verhalten.
Rolf Padlina aber wurde erst zu Hause bewusst, was eigentlich geschehen war. «Ich fragte nach, warum nicht die Polizei geholt worden ist. Man sagte mir, dass ich schliesslich ausser Gefahr gewesen sei und man den Patienten isoliert habe. Die Antwort enttäuschte mich. Ich beschloss, Anzeige gegen den Mann zu erstatten.»
Schuldunfähig wegen Psychose
Eine Antwort auf den juristischen Vorstoss erhielt der Beamte vom Zürcher Stadtrichteramt erst im September. «Es war eine Einstellungsverfügung. Die Begründung: Der Beschuldigte leide an einer psychischen Erkrankung mit Verhaltensstörungen. Im Schreiben hiess es auch, dass der Mann an der psychiatrischen Uni-Klinik therapiert worden ist. Der Täter sei darum schuldunfähig und wieder auf freiem Fuss.»
Rolf Padlina sagt verzweifelt: «Ich bekam weder Schmerzensgeld noch eine Abfindung. Ich müsste eine Therapie selber finanzieren, um mein Trauma in den Griff zu kriegen. Die Krankenkasse übernimmt nur einen kleinen Teil der Kosten. Ich bin nicht reich. Ich fühle mich im Stich gelassen.»
Das Stadtspital Triemli darf sich aus Gründen des Berufs- und Patientengeheimnisses zum konkreten Fall nicht äussern. Mediensprecherin Maria Rodriguez hält aber fest, dass im Stadtspital Zürich eine Kultur der Nulltoleranz bei Gewalt herrscht. «Wir investieren viel in entsprechende Dispositive und Massnahmen. Zu bestimmten Zeiten sind Sicherheitsmitarbeiter präsent. Die Angestellten sind im Rahmen des Bedrohungsmanagements geschult, gefährliche Situationen möglichst früh zu erkennen und zu deeskalieren.»
50 Prozent mehr Gewalt
Das Thema Gewalt gegen Personal und Patienten ist ein wichtiges Thema am Stadtspital Zürich. «Die Zahl der Aggressionsereignisse ist generell gestiegen», sagt Rodriguez. Und konkret: «Im Jahr 2022 stieg sie im Vergleich zum Vorjahr um 50 Prozent.» Die Statistik für 2023 liegt noch nicht vor.
Eine Zunahme an Gewalt gegen Pflegende wird laut dem Newsportal Medinside in fast allen Spitälern der Schweiz registriert. Als Beispiel nennt die Onlinepublikation die Situation des Pflegepersonals am Inselspital Bern: 2022 musste der interne Sicherheitsdienst 1800 Mal eingreifen, 2021 waren es 1600 Fälle, das sind 40 mehr als im Jahr 2020. 2016 waren es noch gerade mal 600 Übergriffe.
Jeder Übergriff ist einer zu viel, sagt Rolf Padlina. Die Opfer würden noch lange mit den Folgen kämpfen. «Die Bilder der Attacke kommen immer wieder hoch.»