Die Schweizer Bahnhofsuhr feiert dieses Jahr ihren 75. Geburtstag. Mit ihrem klaren Design ist die Stilikone ein Symbol für die Pünktlichkeit der SBB, «ein tagtägliches Leistungsversprechen», wie die SBB sagen.
Nur, dass sie dieses Versprechen lange nicht mehr so penibel einhalten wie vor 75 Jahren. Wer in den letzten Monaten im Zug sass, musste viel zu oft Verspätungen hinnehmen, feststellen, dass der Zug einfach an einem Bahnhof vorbeifuhr, statt anzuhalten oder die Klimaanlage streikte.
Noch schlimmer aber: Manchmal fallen die SBB-Verbindungen ganz aus. Derzeit auf der Strecke Zürich–St. Gallen. Oder zwischen Zürich und Brugg AG. Oder zwischen Lausanne und Genf. Weil gebaut wird, weil kein Lokführer aufzutreiben ist, weil der Wackelzug Dosto von Bombardier mal wieder seine Türen nicht schliessen mag.
Jeder vierte Zug zwischen Basel und Brig ist zu spät
Verspätungen, Störungen und Ausfälle – die SBB sind nicht in Form. Die Passagiere erleben das täglich. Den von den SBB erstellten Pünktlichkeitsstatistiken glauben sie längst nicht mehr.
Zugegeben, nicht jeden Tag ist es so schlimm wie am 27. Juni, als die Hitze Schienen verformte und im Mittelland nichts mehr ging. Doch Sorgenkinder gibt es genug: Die Verbindungen ins Tessin und der IC6 zwischen Basel und Brig VS zum Beispiel. Eine BLICK-Auswertung zeigt, dass zwischen Januar und Mai fast jeder vierte Zug auf dieser Strecke mehr als drei Minuten zu spät ankam – und zwar nicht nur, wenn er im italienischen Domodossola gestartet war.
Diese drei Minuten sind zentral – nicht weil BLICK hier pingelig wäre: Es sind die SBB selbst, die festgelegt haben, ein Zug sei unpünktlich, wenn er mehr als drei Minuten Verspätung einfährt.
Am Bahnhof Spiez im Berner Oberland ist jeder vierte Zug unpünktlich – die internationalen Kompositionen, aber auch IC und sogar Interregios. Da mag sich der Zeiger an der Bahnhofsuhr noch so zuverlässig drehen.
15 Jahre zu wenig Unterhalt gemacht
Fragt man die SBB nach dem Grund der Verspätungen, verweisen diese auf die vielen Baustellen auf dem Schienennetz. Doch diese fallen nicht vom Himmel. Die meisten haben die SBB selbst zu verantworten. «Von 1995 bis etwa 2010 ist der Unterhalt vernachlässigt worden», bestätigt Stefan Sommer (53), Leiter der SBB-Abteilung Fahrweg. Der Herr über Gleise, Weichen und Fahrleitungen betont, früher habe der Ausbau des Netzes im Fokus gestanden.
Erst 2009, als mit Philippe Gauderon (64) ein neuer SBB-Infrastrukturchef ans Ruder kam, bemerkte man, dass der Unterhalt vergessen wurde. Unter diesem Versäumnis leiden die SBB noch heute. Zwar haben die Bundesbahnen inzwischen viel nachgeholt, aber noch immer sagt Sommer, sein Unternehmen habe «einen gewissen Rückstand, den wir aufholen müssen».
13 Prozent der Gleise sind «ungenügend»
Einen gewissen Rückstand? Der aktuelle Netzzustandsbericht verdeutlicht: 25 Prozent der Schweizer Gleise sind in einem «schlechten» Zustand, 13 gar «ungenügend». Auch sieben Prozent der Weichen sind ungenügend. Zu alt, nicht mehr in Schuss. «Selbst wenn die Zustandsnote ‹ungenügend› ist: Die Sicherheit ist jederzeit uneingeschränkt gewährleistet», sagt Markus Vitali (49), stellvertretender Leiter der Abteilung Anlagen und Technologie, mit Nachdruck.
Doch zum Teil müssen die SBB sogenannte Langsamfahrstellen einrichten – Streckenabschnitte, auf denen der Zug nicht mit der normalen Geschwindigkeit fahren darf. 26 waren es letztes Jahr.
An deutlich mehr Langsamfahrstellen bremsen die Züge aber wegen Bauarbeiten ab: Im vergangenen Jahr an genau 1929 Orten. Es wirkt sich aus, dass die SBB nun mit Volldampf nachholen, was sie in früheren Jahren versäumten.
Infrastruktur für 14 Prozent der Verspätungen verantwortlich
Wenn die SBB jetzt flicken und erneuern, was das Zeug hält, heisst das für den Kunden Ausfälle, Verspätungen und Umleitungen. Denn oft genug sind nächtliche Arbeiten auf einem Gleisabschnitt nicht wie geplant bis am frühen Morgen abgeschlossen. Und Streckenabschnitte, deren Reparatur für einige Wochen geplant waren, brauchen halt länger.
Nichts zu machen, ist allerdings keine Option. Denn alte Anlagen führen auch zu Problemen: 2018 waren 14 Prozent aller Verspätungen auf Störungen der Infrastruktur zurückzuführen – auf Schienenbrüche, Fahrleitungsstörungen, marode Gleisbetten.
Weniger Störungen, mehr Betroffene
Auch wenn es langsam besser wird: «In den letzten zwei Jahren ist es uns gelungen, die Anzahl Störungen deutlich zu reduzieren», sagt SBB-Mann Vitali. Tatsächlich: Die durch die Infrastruktur verursachten Störungen gehen seit Jahren zurück. Aber bis die SBB «den Anteil der Anlagen in der schlechten und ungenügenden Zustandsklasse reduziert haben», wird es laut Vitali noch ein paar Jahre dauern.
Bleibt noch eine Frage: Warum rühmen sich die SBB ständig für ihre europaweit beispiellose Pünktlichkeit, während sich die Bahnkunden über zunehmende Verspätungen aufregen?
Vitali hat eine einleuchtende Erklärung: «Es fahren mehr Züge auf dem Netz und in diesen Zügen sitzen immer mehr Menschen.» Das heisst: Auch wenn die Störungen zurückgehen, wirkt sich jede einzelne auf mehr Passagiere aus.» Es gibt also trotz weniger Vorfälle immer mehr Betroffene.