Expertin ordnet ein
Ist Brexit oder Corona schuld an der Briten-Krise?

Ist die aktuelle Versorgungskrise eine Folge der Corona-Pandemie? Oder sind das die Auswirkungen des Brexit? Und wie lange kann sich Premierminister Boris Johnson noch im Amt halten? Brexit-Expertin Stefanie Walter von der Universität Zürich ordnet die Situation ein.
Publiziert: 08.10.2021 um 17:13 Uhr
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Der britische Premierminister Boris Johnson (57) schweig den Brexit als Ursache der Versorgungsmisere tot.
Foto: keystone-sda.ch
Tobias Ochsenbein

Grossbritannien steckt in einer Versorgungskrise. Im ganzen Land gibt es Warteschlangen an Tankstellen und grosse Lücken in den Supermarktregalen. Die britische Armee muss ausrücken, um Sprit zu liefern. Das alles, weil auf der Insel an die 100’000 Lastwagenfahrer fehlen. Brexit und die Corona-Pandemie stellen die britische Wirtschaft täglich vor neue Belastungsproben.

Es mangelt nicht nur an Benzin und Diesel. Auch Bier, Truthähne und Christbäume sind knapp. Wegen Lieferengpässen ist sogar Weihnachten in Grossbritannien in Gefahr!

Leidet Johnson an Realitätsverlust?

Und was macht Premierminister Boris Johnson (57)? Er sagt an der Jahresversammlung der Konservativen Partei: «Dieses Land ist führend in der Welt, wenn es um Lieferketten und Logistik geht.» In seiner Rede am Mittwoch versprach er höhere Löhne, höhere Produktivität, höheres Wachstum und niedrigere Steuern. Der Brexit als Ursache der Misere schweigt er tot. Leidet der Mann an Realitätsverlust?

«Boris Johnson ist ein Ausnahmetalent darin, seine Politik zu verkaufen», sagt Stefanie Walter, Professorin für Internationale Beziehungen und Politische Ökonomie an der Universität Zürich. «Er muss sich selten daran messen lassen, was er früher gesagt hat», so die Brexit-Expertin.

Mit dem Brexit selber ausgehebelt

«Mangelnde Planung», lautet die Kritik der Opposition. Das Problem der fehlenden Arbeitskräfte, besonders von Lastwagenfahrern, sei seit Jahren bekannt. Es gibt nicht nur zu wenig Lastwagenfahrer. Es fehlt auch Personal im Hotel- und Gaststättengewerbe, in den Schlachthöfen und in der Landwirtschaft.

«Das hätten Johnson uns seine Regierung auf jeden Fall absehen können. Solche Veränderungen brauchen Zeit», sagt Walter. Die Briten seien gut darin gewesen, die Vorteile der internationalen Produktion zu nutzen. Personenfreizügigkeit, Just-in-Time-Produktion, also kurze Produktionszeiten, schnelle Verfügbarkeit, – das funktioniere aber nicht mehr, wenn Waren tagelang am Zoll hängen bleiben, ist Walter überzeugt. «Die Briten haben sich mit dem Brexit ein Stück weit selber ausgehebelt.»

Viele EU-Arbeitskräfte seien nicht bereit, einen langen Prozess auf sich zu nehmen, um an ein britisches Arbeitsvisum zu kommen, wenn sie auch in Spanien oder Deutschland arbeiten können und sich dort willkommener fühlen.

Jetzt muss einheimisches Personal ausgebildet werden

Mit dem Thema Immigration ist unter anderem der Brexit entschieden worden. Viel weniger Personen aus der EU reisen zum Arbeiten in das Vereinigte Königreich ein. Diejenigen, die da waren, verliessen das Land. «Grossbritannien hat die Einwanderungsregulierungen massiv verschärft. Das rächt sich nun auf dem Arbeitsmarkt. Jetzt müssen die Briten einheimisches Personal ausbilden, das braucht sehr viel Zeit und geschieht nicht über Nacht», sagt Stefanie Walter.

Boris Johnson selbst sagt, dass es sich bei der Versorgungskrise bloss um eine Übergangsphase handle. Sie hänge nicht mit dem Brexit zusammen und die Regierung trage keine Schuld daran. Kann ihm die ganze Krise also nichts anhaben?

Stimmung könnte kippen, wenn die Krise Weihnachten betrifft

Obwohl der Premierminister noch immer grosse Zustimmung erfährt, ist für die Brexit-Expertin Walter klar: «Es wird stark davon abhängig sein, wie lange es der Wirtschaft noch schlecht geht. Die britische Wirtschaft werde sich mittelfristig den neuen Gegebenheiten anpassen, ob das zu mehr Wohlstand für die Briten führt, sei völlig offen.

«Wenn die Corona-Pandemie abflacht und die Leute merken, dass die Krise weiterhin ihren Alltag beeinträchtigt und eben doch mit dem Brexit zusammenhängt, kann die Stimmung kippen», prognostiziert Walter. Vor allem auch, wenn das Weihnachtsfest davon betroffen sein könnte.


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