Christian Althaus (41) leitet eine Gruppe von Epidemieforschern am Berner Institut für Sozial- und Präventivmedizin. Noch vor wenigen Wochen in der breiten Öffentlichkeit ein Unbekannter, ist er in der Corona-Krise zu einem der gefragtesten Epidemiologen Europas geworden. Er berät die Behörden und hat erst diese Woche für seine Corona-Forschungen Fördergelder der EU erhalten. Daneben hat er sich Zeit genommen, BLICK eine Einschätzung zum Lockdown-Plan des Bundesrats zu geben.
BLICK: Am Donnerstag kündigte der Bundesrat die Lockerung des Lockdowns an (BLICK berichtete). Herr Althaus, sind Sie zufrieden mit der Strategie?
Christian Althaus: Sie geht in die richtige Richtung. Man will verhindern, dass die Fallzahlen schnell ansteigen und man wieder von vorne anfangen muss. Also baut man Kontrollmechanismen und verschiedene Etappen ein.
Nicht zufrieden sind aber Sportgeschäfte, Restaurants oder Detailhändler, die erst nach den Coiffeuren, der Migros und den Baumärkten öffnen dürfen.
Über die Ausarbeitung der Phasen kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein. Aber der Bundesrat wird seine Gründe haben. In Coiffeurläden und Kosmetiksalons kann man versuchen, die Hygieneregeln einzuhalten, und man kann Kontakte einfacher zurückverfolgen, als dies etwa bei einem Detailhändler möglich wäre.
Sie sprechen damit Contact Tracing an.
Genau. Dieses und der Aufbau eines Monitoring-Systems sind wichtig, damit die Fallzahlen auf einem tiefen Niveau gehalten werden können. Das würde dann eine weitere schrittweise Lockerung ermöglichen. Südkorea und Taiwan haben vorgemacht, dass viel testen, positive Fälle isolieren und Kontakte zurückverfolgen beim Kampf gegen die Epidemie helfen.
In Südkorea und Taiwan sind die täglichen Fallzahlen aber rund zehnmal tiefer als in der Schweiz.
Diese Länder sind uns natürlich voraus. Aber ich bin optimistisch, dass wir in der Schweiz auch zweistellige Fallzahlen erreichen können, falls die Social-Distancing-Massnahmen weiterhin so gut umgesetzt werden (derzeit pendelt die Zahl der Neuinfizierten in der Schweiz zwischen 200 und 400 Personen pro Tag; Anm. d. Red.).
Wann wird das der Fall sein?
Wenn wir Glück haben, bereits zum Start der Lockerungen, also am 27. April. Ich arbeite mit anderen Forschern an unterschiedlichen Echtzeitanalysen der Epidemie. Die Ergebnisse stimmen uns zuversichtlich.
Sie klingen sehr optimistisch. Warum haben wir Zustände wie in Italien abwenden können?
Die Entwicklung in Italien hat aufgezeigt, was auch bei uns hätte passieren können, falls keine Massnahmen eingeleitet worden wären. Italien konnte leider erst spät reagieren, hat dann aber schnell gehandelt. In der Schweiz konnte man aufgrund dieser Erfahrung früher Massnahmen einleiten. Natürlich kann man darüber diskutieren, ob nicht schon eine Woche früher etwas hätte geschehen müssen. Aber dann wäre die Bevölkerung vielleicht noch nicht bereit gewesen. Ich glaube, die Schweiz hat einen sehr guten Zeitpunkt erwischt, um die Lockdown-Massnahmen umzusetzen.
Hat sie auch den richtigen Zeitpunkt erwischt, die Massnahmen wieder zu lockern?
Die Verlängerung um eine Woche halte ich für sehr sinnvoll. Dadurch können vor der ersten Lockerung die Fallzahlen weiter gesenkt werden.
Aber mit der Lockerung werden die Zahlen doch wieder ansteigen?
Das hoffen wir natürlich nicht. Wir haben jetzt einen gewissen Spielraum. Unsere Forschungsgruppe konnte aufzeigen, dass die sogenannte Reproduktionszahl deutlich unter eins gedrückt werden konnte. Das bedeutet, dass eine Person im Durchschnitt weniger als eine weitere Person infiziert. Solange diese Zahl unter eins bleibt, werden die Fallzahlen nicht mehr ansteigen.
Man kann jetzt also etwas riskieren?
Man darf jetzt nichts verspielen und setzt deshalb auf eine vorsichtige Lockerung. Durch ein geeignetes Monitoring-System sollten wir in der Lage sein zu verfolgen, was passiert. Man weiss zum Beispiel noch nicht, welche Massnahmen wie viel zur Verlangsamung der Verbreitung beigetragen haben.
Es kann somit immer noch sein, dass die Restaurants umsonst geschlossen wurden.
Das denke ich nicht. Jede Massnahme hat ihren Effekt, und gerade in der Gastronomie kann es natürlich zu vielen Kontakten mit dem Potenzial einer Übertragung kommen.
Wann können wir unsere Eltern wieder umarmen, unsere Freundinnen küssen und unseren Kollegen die Hände schütteln?
Es ist wichtig zu verstehen, dass das Virus nicht so schnell verschwindet. Wenn man sich nicht mehr an die Vorsichtsmassnahmen hält, können die Fallzahlen sehr rasch wieder ansteigen. Noch ist in der Schweiz wohl nur ein sehr kleiner Teil der Menschen infiziert worden. Die derzeitigen Hygienemassnahmen und das allgemeine Social Distancing werden also auch in Zukunft wichtig bleiben. Wir müssen jetzt lernen, vorläufig auf diese Weise miteinander zu leben, bis zusätzliche Massnahmen gut umgesetzt werden oder beispielsweise eine Impfung vorhanden ist. Das dürfte sicher noch viele Monate dauern.