War das eben ein Juchzer – oder doch eher ein Angstschrei? Auf jeden Fall schafft es die Gummibootcrew ohne zu kentern durchs tosende und schäumende Nass. Jetzt werden die Ruder eingezogen und High Fives ausgetauscht. Sie öffnet ein Bier, er schiesst das obligate Selfie. Das war knapp – und schon kommen die Nächsten.
Am Samstagnachmittag fliesst immer noch recht viel Wasser die Aare von Thun nach Bern hinunter, über 200 Kubikmeter pro Sekunde genau genommen, es zieht also, und hier ganz besonders: Die Uttigenwelle ist das Brüggli-S der Aareböötler. Ist die Schlüsselstelle bei der Eisenbahnbrücke geschafft, liegt der wildeste Ritt hinter einem.
Mehr zum Böötlen
«Hauptsache, Sommer!»
Die meisten, die sich den Fluss runtertreiben lassen wollen, klettern wohl auch deshalb erst nach der berüchtigten Schwelle in ihre Schwimmvehikel. Auch eine Clique aus dem Kanton Freiburg entscheidet sich gegen den Adrenalinkick. «Wir mögen es gemütlich», sagt Jasmine Klaus (34) zu Blick. Und ihre Kollegin, die die blaue Tonne mit dem Bier und der Musikbox zum Fluss trägt, ergänzt: «Hauptsache, Sommer!»
Die Böötli-Bedingungen sind so gut wie seit Monaten nicht mehr: keine Sturzfluten, keine Baumstämme, die wie Alligatoren unter trüber Wasseroberfläche lauern, keine Warnungen von der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft wie vor zwei Wochen.
Dafür knackt die Aare bei Bern schon kurz nach 15 Uhr die magische 20-Grad-Marke. «Gibim», meint die Aareguru-App, was so viel heisst wie «los gehts», und definitiv motivierender klingt als das «Uschaflig chaut» der letzten Tage, Wochen und Monate.
Handy im Dry Bag
Zum Einschiffen in Uttigen BE eingefunden hat sich Leoni Maurer (34) aus Ulm in Deutschland. Sie sei gespannt, was die Aare zu bieten habe, sagt sie. Vor ein paar Tagen plumpste ihr das Handy ins Wasser, jetzt hat Maurer das Teil in einen Plastiksack gehüllt und in einen Dry Bag gepackt. Und auch die Rettungsweste, die das Gesetz auf Schweizer Gewässern vorschreibt, liegt griffbereit. «So kann nichts schiefgehen.»
Ein bisschen anders sieht das Christoph Merki, Sprecher der Schweizerischen Lebensrettungs-Gesellschaft. Er brütet gerade über der Ertrinkungsstatistik fürs letzte Jahr. Mitte August werden die Zahlen veröffentlicht. Auch 2023 seien wieder überdurchschnittlich viele Menschen in Schweizer Gewässern verstorben, sagt er.
Man dürfe sich nicht in falscher Sicherheit wiegen. «Auch wenn die App grünes Licht gibt, ist die Fliessgeschwindigkeit in diesen Tagen immer noch hoch.» Merki hat einen klaren Appell: Wer ins Boot steige, muss sich vorher informieren. Wo befindet sich die Ausstiegsstelle? Gibt es, falls man diese verpasst, einen Plan B?
Unglaubliche Kräfte
Was auf keinen Fall gehe, und man trotzdem auch am Samstag auf der Aare immer wieder sehe, sei das Zusammenbinden der Boote. «Das ist das Dümmste, was man machen kann», so Merki. Es schränke die Manövrierfähigkeit ein, und wenn das Gespann dann auf einen Brückenpfeiler treffe, werde es richtig heikel.
Was vielen nicht bewusst ist: Die Aare hat die Kraft zweier fahrender Güterzüge. Wird man bei einem Hindernis eingeklemmt und von der Strömung unter Wasser gedrückt, wird es lebensgefährlich. 2015 etwa ertranken so zwei Böötlerinnen in der Aare.
Die Schlange vor der Einwasserungsstelle in Uttigen wird länger und länger. Das Zischen der Sonnencremesprays vermischt sich mit dem Zischen der Pumpen. Das perfekte Wetter lockt Heerscharen an. Bald ist das türkisblaue Wasser gesprenkelt mit bunten Punkten aus Plastik. Man sei sich der Risiken bewusst, sagt Flurin Kalberer (24), der Captain einer Gruppe aus Bern, kurz vor dem Abstossen. «Wir sind alles gute Schwimmer», sagt der Medizinstudent, «alles halb so wild». Und dann gehts los.
Spasstruppe mit Einhorn
Ebenfalls auf den Weg die Aare runter machen sich ein paar Freunde aus der Romandie. Sie nehmen zu siebt auf einem überdimensionalen Einhorn Platz. Steuermann der Spasstruppe ist der Franzose Loïc Kervella (30), seines Zeichens Weltmeister 2015 im Slalomfahren mit dem Kanu. Habe er ein Ruder zur Hand, könne er jedes Gefährt sicher ins Ziel führen, sagt er. «Unser Einhorn ist auch nur ein besonders grosses Kajak.»
Für die Strecke von Thun nach Bern benötigen die meisten rund drei Stunden. An Tagen, an denen wie gestern alles auf den Fluss strömt, wird es bei den Auswasserungsstellen eng und hektisch. Bei der Rampe hinter dem Freibad Marzili wachen zwei Securitys über das Geschehen, weisen die Leute an, ihre Boote möglichst schnell vom Ufer wegzutragen, um den nachfolgenden Böötlern Platz zu machen.
Sandro König (23) ist mit seiner Freundin dem Trubel ausgewichen und schon früh losgepaddelt. Man müsse beim Böötlen den Kopf bei der Sache haben, sagt der Schreiner, während er mit einem Frotteetuch die Unterseite seines Schlauchboots trocknet. Vor einigen Jahren musste er ein Paar aus dem Fluss fischen, dessen Boot gekentert war. Wer sich an die Sicherheitsvorschriften halte, erlebe auf der Aare aber die beste Zeit, sagt König. Man könne «sünnelen», sich im Fluss abkühlen und geniesse jede Menge Action. «Für uns Berner ist es fast ein bisschen wie das Meer.»