Shkelqim Hyseni (35) kam als Verlierer zur Welt: Geboren vor Ausbruch des Krieges auf dem Balkan, muss seine Familie nach der Ausreise in die Schweiz wieder von ganz unten beginnen. Im Kanton Thurgau wird aus dem Ausländer-Kind schnell ein Aussenseiter. «Ich war ein Exot, denn hier auf dem Land gab es damals kaum ausländische Kinder», erinnert er sich an die Kindheit in Dettighofen TG. Bis zur Schule spricht Hyseni kein Deutsch, hat so keine Chance auf eine höhere Ausbildung. Aber «Qimi», wie ihn seine Kollegen nennen, bleibt kein Verlierer. Im Gegenteil! Heute ist er Chef von fast 900 Mitarbeitern und schaut auf eine überraschende Karriere zurück. So kam er ohne Studium von ganz unten nach oben.
Hyseni ist ein fleissiger und interessierter Schüler – trotz Sprachrückstand. Dem Umstand, dass er nach der sechsten Klasse in die Real- statt die Sekundarschule kommt, weint er keine Träne nach: «Ich wusste damals schon, dass ich etwas Praktisches machen will.» Für ein Studium kann er sich zu jenem Zeitpunkt sowieso nicht begeistern.
Vom Realschüler zur Teppichetage
Umso engagierter kümmert sich Hyseni am Ende seiner Schulzeit um Schnupperlehren. Seinen persönlichen Erweckungsmoment hat er dann bei Coop: «Der Kontakt mit den Kunden gefiel mir unglaublich gut. Ab da wusste ich, dass ich unbedingt hier meine Lehre machen möchte.»
Diese absolviert er in der Coop-Filiale in Steckborn TG. Der junge «Qimi» ist motiviert und hat ebenso grosses Talent. Sein ehemaliger Lehrmeister Rolf Egli (61), seit 36 Jahren bei Coop, erinnert sich: «Qimi war aussergewöhnlich. Sein Talent war nicht zu übersehen.» Für Hyseni ist Egli Förderer und Mentor. «Rolf sagte mir damals in einem Gespräch ‹Qimi, wenn du so weitermachst, wirst du irgendwann noch mein Chef›, erzählt Hyseni mit schelmischem Grinsen. Ein kleiner Satz mit grosser Wirkung: «Das hat mich damals unheimlich motiviert!»
Schon bald nach Abschluss seiner Lehre kommt er in ein Talentprogramm, bildet sich weiter, erreicht schlussendlich das Certificate of Advanced Studies CAS in strategischem Management. Heute ist er Verkaufsleiter und in dieser Position und verantwortlich für über 30 Filialen in zwei Kantonen. «Ich hatte eigentlich nicht grundsätzlich vor, mein ganzes Arbeitsleben bei Coop zu verbringen. Doch jedes Mal, bevor ich überhaupt Abschiedsgedanken haben konnte, kam Coop mit einer noch verantwortungsvolleren Aufgabe auf mich zu».
Wie gross die Chancen auf eine Karriere bei Coop sind, zeigen – neben Hysenis Werdegang – auch die Zahlen: Rund jeder siebte Kadermitarbeiter, hat seine Lehre beim Detailhandels-Riesen absolviert. Auch bei den anderen grossen Playern am Detailhandel verhält es sich ähnlich. Die Migros nennt auf Blick-Anfrage einige Zahlen: 97 Prozent der Lehrlinge schliessen die Ausbildung ab, gar jeder Dritte wird weiterbeschäftigt. Zu den Kaderzahlen kann die Migros – aufgrund der dezentralen Organisation – keine Auskunft geben. Auch bei Denner lesen sich die Zahlen sehr eindrücklich: Beinahe jeder Dritte der Verkaufsleiter, hat seine Karriere bei Denner begonnen, ebenso wie der Grossteil der fast 600 Filialleiter. Bei Lidl – erst seit 20 Jahren in der Schweiz – sind es immerhin 8 Prozent der Filialleiter, die schon die Lehre im Betrieb gemacht haben.
Doch warum ist das so? Wie gelingen solche Bilderbuchkarrieren im Detailhandel, ohne den klassischen Weg über Gymnasium und Uni? Der Leiter des Berufsinformationszentrums Schaffhausen, Claudio Pecorino (51), weiss dank seiner fast 20-jährigen Erfahrung: «Wenn jemand Interesse und grundlegende Fähigkeiten mitbringt und bereit ist, den Job von der Pike auf zu erlernen, dann bietet die Detailhandelsbranche viele Möglichkeiten.»
Von Kundenkontakt über Verkauf, Management, Kommunikation oder Beratung, habe man dort eine riesige Berufsauswahl, wo die eigenen Talente zur Entfaltung kommen könnten.
Bilderbuchkarriere dank Nachteilen?
Zudem hätten erfolgreiche Menschen aus einem sprach- und bildungsfernen Umfeld oft einen unfreiwilligen Vorteil: «Vielleicht hilft es manchmal sogar, dass sie sich daran gewöhnt sind, mehr ‹beissen› zu müssen als andere. Da sie das Sprach- und das Unterstützungsdefizit aus dem Elternhaus allein aufholen müssen.»
Zudem helfe das Schweizer Bildungswesen. Dank des dualen Bildungssystems seien die Möglichkeiten gross: «Sicher ist ein akademischer Titel mit einem Realabschluss nicht der übliche Weg, aber durchaus möglich. Wir müssen die Vorstellung relativieren, dass man nur mit einer gymnasialen Matura, eine vielversprechende Karriere hinlegen kann», so Pecorino.
Das zeigt auch der Blick in die internationale Nachbarschaft. Während in Deutschland und Österreich eine gymnasiale Ausbildung mit anschliessendem Studium immer noch als Königsweg zu einer erfolgreichen Berufskarriere gilt, sieht es in der Schweiz anders aus: Gerade einmal 32 Prozent der Frauen und 23 Prozent der Männer, entscheiden sich trotz Sekundarschulabschluss für eine gymnasiale Ausbildung. Dennoch weist die Schweiz eine 50 Prozent höhere Akademikerquote auf als die deutschsprachigen Nachbarländer. Der Grund dafür ist einfach: das duale Bildungssystem.
Dieses war auch die Blaupause für Hysenis Bilderbuchkarriere. Warum es aber häufig gerade Detaillisten sind, die unentdeckte Talente zu fördern vermögen, ist für Pecorino klar: «Die Einstiegshürden sind hier tiefer als beispielsweise in der Finanzbranche oder der Informatik.» So könnten Talente entdeckt werden, die als Jugendliche vielleicht noch unter dem Radar geflogen seien.