«Ich bin zwei Jahre durch die Hölle gegangen»
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Julie Hugo nach Vergewaltigung:«Ich bin zwei Jahre durch die Hölle gegangen»

Ein Opfer klagt an
«Es ist, als ob mich die Justiz ein zweites Mal vergewaltigt hätte»

Julie Hugo brachte ihren Vergewaltiger vor Gericht. Doch das Verfahren war für sie die Hölle. Der Fall von Julie Hugo zeigt, wie stark die Justiz noch immer auf Täter fokussiert ist – und wie sehr Opfer von Sexualdelikten darunter leiden.
Publiziert: 13.04.2023 um 00:33 Uhr
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Aktualisiert: 13.04.2023 um 14:13 Uhr
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Julie Hugo will die Hölle, die sie erlebt hat, nicht länger verschweigen – um damit «allen Vergewaltigungsopfern Kraft zu geben».
Foto: GABRIEL MONNET
Adrien Schnarrenberger und Nadine Schouwey

Julie Hugo (42) war ein Star. Von 2004 bis 2011 stand sie als Frontfrau der Band Solange la Frange auf den grossen Bühnen der französischsprachigen Welt – vom Paléo Festival in Nyon bis in die angesagten Clubs von Paris. Doch das ist Vergangenheit. Eine fürchterliche Tat hat das Leben der Freiburgerin für immer verändert. Heute ist Julie Hugo ein Vergewaltigungsopfer.

Es geschah an einem Abend im Dezember 2021. Hugo hatte einen Mann auf ein Glas zu sich nach Hause eingeladen. Wie sie vor Gericht sagte, wurde das Treffen zu einem Drama, als sie merkte, dass etwas nicht stimmte – und ihren Gast aufforderte zu gehen.

Mehrere Stunden lang geht sie durch die Hölle. Zur Vergewaltigung kommen extrem gewalttätige Misshandlungen hinzu, die sie um ihr Leben fürchten lassen.

Nach dem Überfall fällt Julie Hugo in eine viertägige Schockstarre. Sie versucht, so gut wie möglich zu funktionieren – für ihre Tochter. «Erst als sie sah, wie ich mit einem Stock Wäsche aufhängte, weil ich meine Arme nicht mehr heben konnte, wurde mir klar, dass etwas nicht stimmte. Ich habe meine Verletzungen erst wirklich gespürt, als ich sie zu ihrem Vater zurückgebracht habe.»

Julie Hugo geht ins Spital. Die Diagnose: Prellungen am Kopf, am Körper und am Nacken, Halswirbelverletzungen, Verletzungen im Mund, posttraumatische Belastungsstörung. Sie erstattet Anzeige.

Ein zweites Mal durch die Hölle

Die Geschichte von Julie Hugo handelt davon, wie eine Frau alles tut, wozu man Vergewaltigungsopfern rät – und trotzdem oder gerade deswegen noch einmal die Hölle erlebt. «Es ist, als ob ich ein zweites Mal vergewaltigt worden sei – zwar von der Justiz», sagt Hugo. Sie hat sich entschieden, Blick ihren Fall zu erzählen, um «allen Vergewaltigungsopfern Kraft zu geben».

Sexuelle Gewalt erlebt? Das kannst du tun

Sexuelle Gewalt ist in der Schweiz verboten, kann aber jede Person treffen. Wenn du einen sexuellen Übergriff erlebt hast, rät die Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz zu folgenden Schritten:

1

Sprich mit einer Person, der du vertraust.

2

Kontaktiere eine Beratungsstelle der Opferhilfe. Hier bekommst du Informationen zu deinen Rechten, Adressen für psychologische Unterstützung, hier wirst du aufgeklärt über Vor- und Nachteile einer Anzeige bei der Polizei.

3

Suche am besten innert 48 Stunden ein Spital, eine Ärztin, einen Arzt auf – auch wenn du nicht verletzt bist.

4

Lass dich dort untersuchen und Spuren sichern. Du bekommst Medikamente und erste psychologische Hilfe.

5

Um eine Anzeige zu machen, gehst du direkt zur Polizei oder informierst dich zuerst bei einer Beratungsstelle für Opferhilfe.

Sexuelle Gewalt ist in der Schweiz verboten, kann aber jede Person treffen. Wenn du einen sexuellen Übergriff erlebt hast, rät die Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz zu folgenden Schritten:

1

Sprich mit einer Person, der du vertraust.

2

Kontaktiere eine Beratungsstelle der Opferhilfe. Hier bekommst du Informationen zu deinen Rechten, Adressen für psychologische Unterstützung, hier wirst du aufgeklärt über Vor- und Nachteile einer Anzeige bei der Polizei.

3

Suche am besten innert 48 Stunden ein Spital, eine Ärztin, einen Arzt auf – auch wenn du nicht verletzt bist.

4

Lass dich dort untersuchen und Spuren sichern. Du bekommst Medikamente und erste psychologische Hilfe.

5

Um eine Anzeige zu machen, gehst du direkt zur Polizei oder informierst dich zuerst bei einer Beratungsstelle für Opferhilfe.

Die Freiburgerin hat sich einem Kollektiv von Opfern sexueller Gewalt angeschlossen. Sie sagt, in ihrer Selbsthilfegruppe würde kaum eine Frau noch einmal Anzeige erstatten. Für Julie Hugo beweist das, wie traumatisierend Justizverfahren für Opfer von Sexualdelikten sein können.

Ein Problem ist die Länge der Verfahren. 16 Monate dauerte es im Fall von Julie Hugo. Während für ihren Angreifer die Unschuldsvermutung galt, hatte sie in dieser Zeit die Konsequenzen der Tat zu tragen: «Ich habe eineinhalb Jahre meines Lebens verloren.»

Im März verurteilte das Bezirksgericht Saane den Täter wegen Vergewaltigung, sexueller Nötigung und einfacher Körperverletzung. In erster Instanz erhielt er eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung und muss seinem Opfer 10'000 Franken Schmerzensgeld zahlen. Bis das Urteil rechtskräftig ist, gilt für ihn nach wie vor die Unschuldsvermutung.

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«Es ist nicht an mir, die Konsequenzen für seine Taten zu tragen.»
Julie Hugo
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Julie Hugos Martyrium aber dauert auch nach dem Urteil an. Der Täter könnte das Verfahren weiterziehen. Sein Anwalt reagierte nicht auf die Anfrage von Blick. Noch immer wohnt sie in seiner Nähe und muss sich damit abfinden, ihm regelmässig zu begegnen. Die Justiz hat ihren Anträgen auf Fernhaltemassnahmen nicht stattgegeben. «Die einzige Option, die ich habe, ist umzuziehen, aber das will ich nicht. Meine Tochter fühlt sich hier wohl, und es ist nicht an mir, die Konsequenzen für seine Taten zu tragen.»

Heute, sechzehn Monate nach der Tat, ist Julie Hugo arbeitslos. Ihren 60-Prozent-Job verlor sie aufgrund der vielen Absenzen im Zusammenhang mit der Behandlung ihrer körperlichen und psychischen Schmerzen. So verlangte ihre Versicherung, dass sie von Freiburg nach Neuenburg reist, um über ihre Verletzungen Auskunft zu geben: «Die Versicherung sezierte die Diagnosen der Ärzte und stellte sie infrage.»

Die Tat bringt Julie Hugo zunehmend auch in finanzielle Nöte. Letzten Sommer konnte die Musikerin auf keinem Festival spielen. «Das Wasser steht mir finanziell bis zum Hals», sagt sie.

Keine Haft wegen gutem Verhalten

Immerhin: Julie Hugo kann auf die Unterstützung ihrer Freundinnen zählen, die im März sogar zur Urteilsverkündung gekommen waren. Die Verurteilung ihres Angreifers ist eine Erleichterung, aber die Bewährungsstrafe hat sie und ihre Freundinnen verblüfft. «Ich finde die Botschaft, die die Justiz vermittelt, beunruhigend. Du kannst jemanden vergewaltigen und verprügeln, ohne dass es schwerwiegende Konsequenzen für dein Leben hat.»

Der Richter begründete den Verzicht auf eine unbedingte Gefängnisstrafe mit fehlenden Vorstrafen und dem guten Verhalten während des Verfahrens. Julie Hugo sagt: «Dadurch, dass ich während des Verfahrens die ganze Zeit zu Hause war und mich kaum mehr raustraute, habe ich das Gefühl, dass ich länger im Gefängnis sass als mein Angreifer.»

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Hugo beklagt auch die Tabuisierung von Vergewaltigungen und das Unbehagen, das sie auslösen. «Sogar Leute, die mir sehr nahe standen, sagten mir manchmal: ‹Ich muss nicht alle Details wissen.› Aber es ist meine Realität und ich muss darüber reden! Menschen, Frauen, Kinder und sogar Männer werden jeden Tag vergewaltigt, das darf nicht länger verschwiegen werden!»

Deshalb will sie jetzt über ihren Fall reden. «Ich möchte anderen Menschen in dieser Situation zeigen, dass sie nicht allein sind. Wenn du isoliert bist, hast du schnell düstere Gedanken». Im Fall der Freiburgerin führten diese dazu, dass sie sich selber verletzte.

Zehn Jahre lang hat Julie Hugo Tausende von Menschen begeistert. Jetzt will die Freiburger Sängerin mit ihrer Geschichte etwas bewegen. Es gibt viel zu tun: Derzeit erstatten weniger als 10 Prozent der Vergewaltigungsopfer in der Schweiz Anzeige, und viele von ihnen geben während des Verfahrens auf.

Und während die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung (nach Art. 190 StGB) pro 100'000 Einwohner in den letzten Jahren gestiegen ist, insbesondere im Zusammenhang mit dem Phänomen #MeToo, sind die Verurteilungen rückläufig.

Enorme kantonale Unterschiede bei Verurteilungen

Eine Studie von Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), hat die enormen Unterschiede zwischen den Kantonen aufgezeigt: Die Waadt bestraft 61 Prozent der wegen Vergewaltigung Angeklagten, während beispielsweise die Zürcher Justiz nur zu sieben Prozent Verurteilungen kommt. «Diese Zahlen hängen zweifellos stark mit der Art und Weise zusammen, wie die Opfer betreut werden», sagt Marylène Lieber, Professorin für Gender Studies an der Universität Genf, im März gegenüber den Zeitungen der TX Group.

Julie Hugo glaubt, dass sich etwas ändern muss und wird: «Heute gibt es in der Gesellschaft ein feministisches Bewusstsein. Jetzt können wir wirklich etwas verändern. Das müssen wir nutzen!»

Mehr Vergewaltigungen, weniger Verurteilte

Im Jahr 2022 wurden in der Schweiz 867 Vergewaltigungen angezeigt (inklusive 63 Fälle von versuchter Vergewaltigung). Laut Bundesamt für Statistik lag die Zahl der Vergewaltigungen damit um 14,5 Prozent höher als im Vorjahr (Total: 757). Seit 2015 (532 Vergewaltigungen) steigt die Zahl jährlich an.

Der Begriff Vergewaltigung wird nur für Frauen angewandt. Gemäss Artikel 190 im Strafgesetzbuch geht es um die erzwungene vaginale Penetration. Alle anderen sexuellen Übergriffe sind sexuelle Nötigungen. Auch diese Zahl stieg 2022 gegenüber dem Vorjahr an, von 720 auf 752 Fälle. Im Zehnjahresvergleich sind vergangenes Jahr am meisten sexuelle Nötigungen angezeigt worden.

Die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung ist deutlich tiefer. Im Jahr 2020 waren es 113, im Folgejahr 77 Verurteilungen. Für 2022 steht die Zahl noch aus.

Wie eine Studie von Kriminologe Dirk Baier (46) von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften 2021 zeigte, entwickelt sich die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung umgekehrt zu den Anzeigen: Es gibt mehr Beschuldigte, aber weniger Verurteilte. Laut Baier wurde zwischen 2016 und 2018 etwas mehr als jeder fünfte Beschuldigte verurteilt. In den Jahren zuvor war es noch jeder Vierte.

Im Jahr 2022 wurden in der Schweiz 867 Vergewaltigungen angezeigt (inklusive 63 Fälle von versuchter Vergewaltigung). Laut Bundesamt für Statistik lag die Zahl der Vergewaltigungen damit um 14,5 Prozent höher als im Vorjahr (Total: 757). Seit 2015 (532 Vergewaltigungen) steigt die Zahl jährlich an.

Der Begriff Vergewaltigung wird nur für Frauen angewandt. Gemäss Artikel 190 im Strafgesetzbuch geht es um die erzwungene vaginale Penetration. Alle anderen sexuellen Übergriffe sind sexuelle Nötigungen. Auch diese Zahl stieg 2022 gegenüber dem Vorjahr an, von 720 auf 752 Fälle. Im Zehnjahresvergleich sind vergangenes Jahr am meisten sexuelle Nötigungen angezeigt worden.

Die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung ist deutlich tiefer. Im Jahr 2020 waren es 113, im Folgejahr 77 Verurteilungen. Für 2022 steht die Zahl noch aus.

Wie eine Studie von Kriminologe Dirk Baier (46) von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften 2021 zeigte, entwickelt sich die Zahl der Verurteilungen wegen Vergewaltigung umgekehrt zu den Anzeigen: Es gibt mehr Beschuldigte, aber weniger Verurteilte. Laut Baier wurde zwischen 2016 und 2018 etwas mehr als jeder fünfte Beschuldigte verurteilt. In den Jahren zuvor war es noch jeder Vierte.

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