Manchmal muss man hoch hinaus. Dieses Land von oben anschauen. Die Gedanken ordnen. Am Mittwoch war es eine Sitzbank in Stagias GR, 1600 Meter über Meer. Eine Anhöhe zwischen dem Val Medel und dem Val Tujetsch in der Surselva. «Ärdescheen» sei es hier, hat jemand ins Wanderbuch geschrieben.
Ein Graben zwischen Stadt und Land gehe durch die Schweiz, schreiben die Zeitungen. 51,9 Prozent haben vergangenen Sonntag in der Schweiz gegen das neue Jagdgesetz gestimmt. Und damit anders als die Mitbewohner des Wolfs – die Walliser, Urner und Bündner. Die sprachen sich für die Regulierung des Bestands aus. Ja-Anteil: 63 Prozent.
Stagias ist nicht nur eine Anhöhe, sondern auch der Name eines Wolfsrudels. An der nahen Feuerstelle hängt ein Infoblatt der Gemeinde: «Informationen zur Wolfspräsenz». Grundsätzlich nicht gefährlich sei er, heisst es da. Der Wolf dürfe sich aber nicht an Menschen gewöhnen. Umgekehrt sieht die Sache anders aus.
In Stagias werden die Schatten länger. Wie bedrückend schön der Vollmond sein wird, wissen wir noch nicht. Genauso wenig, was uns hinter dem langen Tunnel erwartet, der ins Val Sumvitg hineinführt. Es sind eine Handvoll Häuser, eine gigantische Sicht auf die Berge und Leo Tuor (61), ein Schriftsteller, Alphirt und Jäger.
Sein jüngster Sohn Simon steht auf der Wiese, hält ein aus Lego gemachtes Gewehr in der Hand – er spielt Spiderman. Sein Vater sagt: «Es fasziniert die Menschen, dieses – wie sie sagen – Erhabene der Berge. Ganz besonders die Männer. Die Idee des Unberührten, diese angebliche Jungfräulichkeit.» Tuor machts kurz: «Wildnis gibt es nicht in der Schweiz. Alles, was Sie hier oben sehen, ist Kulturlandschaft, und zwar bis hin zu den Gletschern.» Die Unterländer aber würden die Bergwelt idealisieren. «Sie suchen das Paradies.» Doch es werde ihnen schnell zu ruhig. Und weil sie sich nicht mit sich selber beschäftigen können, müsse man Pseudoaktivitäten schaffen. Abenteuer, die keine sind. Bei denen man nichts riskiert. Die Touristen, die Abenteurer sein möchten, aber wollten auch Salat essen in der SAC-Hütte. Verstehen nicht, dass das alles auf den Berg geflogen werden muss. «Aber wenn wir eine Gämse vier Stunden lang von den Bergen runtertragen, sind wir Mörder? Und nun wollen die Städter uns auch sagen, mit welchen Tieren wir in Zukunft zu leben haben?»
Ökonomischer Graben
Am Tag zuvor in Ilanz GR. Wo überall Plakate der neusten Carigiet-Ausstellung hängen. Die Jugend sich vor dem Migros-Restaurant zum Red-Bull-Trinken trifft und heimgeht, wenn die Migros schliesst. Weil dann nichts mehr läuft. Wir rufen Dominik Siegrist (62) an.
Der Alpenforscher, der als Professor an der Ostschweizer Fachhochschule tätig ist, hat sich intensiv mit der Situation in den Bergtälern befasst, sie durchwandert, erforscht. Siegrist sagt: «Die momentane Stimmung zwischen Stadt und Land ist eindeutig ein Problem.» Der Wolf ist bloss ein Symptom. Der Graben tue sich vor allem ökonomisch auf – in der Stadt steigen die Löhne, auf dem Land stagnieren sie. Arbeitsplätze seien ein Problem, die Abwanderung gross. «Das Verständnis für die gegenseitigen Probleme sinkt.» Er spüre es an der Städtefeindschaft, die einem in den ländlichen Gebieten entgegenschlage. Und an den blöden Sprüchen der Städter über die Menschen in den Bergtälern.
Im Val Sumvitg sagt Tuor, dass er als Schriftsteller den Wolf interessant finde, aber als Hirt eine Katastrophe, und wenn man ihn als Jäger frage, was er mit dem Wolf mache, wenn er ihm begegne, antworte er: «Nicht lange studieren.» In diesem Punkt sei er Walliser durch und durch. «Die Walliser sind hier klar unschweizerisch.» Die Bündner aber seien schweizerisch, Hosenscheisser, wenn es um Taten gehe, sagt Tuor. Spiderman winkt zum Abschied.
Niemand sieht den Wolf
Paul Fry (57) aus Cumpadials hat noch nie einen Wolf gesehen, Silvan Darms (33) aus Flond auch nicht. Darms und Fry sind Bio-Bauern, leben etwa 30 Autominuten voneinander entfernt, kennen sich nicht, teilen aber den Frust, mit ihren Problemen nicht ernst genommen zu werden. Darms sagt: «Die Sicht auf den Wolf ändert sich, wenn er plötzlich im eigenen Garten hockt.» Das sei auch bei ihm so gewesen. So sehr er fasziniert ist von diesem Tier: «Die Situation hier belastet mich.»
Seine Kühe hat er früher als nötig in den Stall genommen. Aus Angst, dass der Wolf sich an die Kälber heranmacht. Er erzählt von anderen Bauern, ihrer Ohnmacht, weil der Wolf trotz Schutz kam und riss. Die Zukunft sei unsicher. Die Hoffnung auf Veränderung geschwunden. Es ärgere ihn, zusammen mit den anderen Bauern als Wolfshasser dargestellt zu werden. «Das stimmt einfach nicht», sagt Darms.
Hirtenkultur geht verloren
Paul Fry hat 20 Milchkühe und 121 Schafe. Wir sitzen in seiner Küche. Er ist zuerst skeptisch. Spricht dann aber doch, unaufgeregt. Seine Schafe wurden auf der Greina, einer Alp mit 800 Tieren, diesen Sommer in der Nacht eingepfercht. Ein grosser zusätzlicher Aufwand. Einzelne Male konnten nicht alle Schafe eingepfercht werden. Sie wurden gerissen, insgesamt 14 Tiere. Herdenschutz sei gut, aber in der Realität nicht so einfach, wie es töne. «Wenn die Entwicklung mit dem Wolf so weitergeht, werden in zehn Jahren viele Schafalpen in diesem Gebiet nicht mehr beweidet.» Damit geht etwas verloren, was hier seit Jahrhunderten zum Leben gehört. Und auch die Biodiversität leidet, weil die Alpen verbuschen, wenn keine Tiere mehr da sind.
Die Schafe sind Anfang Woche von der Greina ins Tal gebracht worden. Fry stapft den steilen Hang im Nachbardorf hinauf, an dem sie nun weiden, ruft seiner Herde. Die Schafe scharen sich um ihn. Er habe das Gefühl, beim Jagdgesetz hätten viele ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen, sich gesagt: Auch wenn ich sonst nicht nachhaltig lebe – für den Wolf bin ich, der ist weit weg, mit dem habe ich keine Probleme. Er sagt: «Viele wollen, dass das Berggebiet bleibt, wie es ist. Aber hier leben auch Menschen, die vorwärtsgehen wollen.»
Was die Schwiegermutter sagt
Nach dem Nein zur Revision des Jagdgesetzes sagte Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga: «Ich möchte die Schweiz zusammenhalten. Keine Region soll vergessen gehen.» Die beiden Bio-Bauern fühlen sich trotz dieser Worte vergessen. Darms sagt zum Abschied: «Jetzt kommt der Winter. Dann sind die Tiere im Stall und in Sicherheit. Das gibt uns Zeit nachzudenken, wie wir nun weiter vorgehen sollen.»
Angela (33), die Frau von Silvan Darms, gebürtige Aargauerin, liebt das Leben hier. Es sei so geerdet. Keine hundert Freunde, kein Ausgang, kein Zumba. «Nur das Wesentliche.» Dafür könne jeder sein, wie er ist. «Ich muss mich hier nie verstellen.» Und jeder passe ein bisschen auf den anderen auf. Ihre Schwiegermutter sagte einmal: «Zu Hause bist du hier erst, wenn du es aushältst, eine Viertelstunde neben einem Bündner zu stehen, ohne ein Wort zu sagen.» Die schweigsamen Bergler und die besserwisserischen Unterländer also. Angela Darms hat sich überlegt, was das für ihre Ehe bedeutet. Sie sei sehr kommunikativ, argumentiere, versuche zu überzeugen. Ihr Mann eher nicht. «Wir haben gemerkt, dass das Mittelmass das Richtige ist.» Die beiden wirken glücklich.
Könnte man so den Graben zwischen Berg und Tal in der Schweiz wieder zuschütten? Indem die Unterländer besser zuhören, die Bergler etwas mehr sprechen? Gemeinsam sucht man den Mittelweg. Ein Miteinander von Wolf und Berglern also. Ein Miteinander von Stadt- und Landbevölkerung auch. «Vielfalt ist die Stärke der Schweiz», mahnte Dominik Siegrist am Telefon. Und auch: «Wir müssen schauen, dass wir das nicht verlieren.»
Dem Schriftsteller Leo Tuor gefällt der Gedanke. Es gibt bereits Anlässe in der Surselva, an denen sich Ferienhausbesitzer und Einheimische austauschen. «Man könnte das auch mit Hotelgästen machen», sagt er. Echt reden. Nicht nur virtuell. Städter hätten genauso ihre Sorgen wie Bergler, das sei ihm schon klar.
Brücken schlagen zwischen Stadt und Land
Alma (52) und Nina Defuns (24) tun genau das: das Verständnis für Natur, Tiere, Berge und die Menschen hier fördern. Mutter und Tochter betreiben gemeinsam die Academia Vivian. Ihre Waldschule liegt auf der Anhöhe Stagias, etwas versteckt im Wald.
«Nice. Geile Hütte», sagen die Jugendlichen, die am Mittwochabend hierher wandern. Sie sind Schüler eines Gymnasiums in Zürich. Diese Woche im Klassenlager. Heute Abend werden sie über dem Feuer Chili con Carne kochen. Alma Defuns trägt Stirnlampe und rührt in der Pfanne. «Wir wollen eine Brücke schlagen zwischen Stadt und Land», sagen Mutter und Tochter. Den Jugendlichen die Natur näherbringen. Darum erzählen sie am Lagerfeuer jeweils von dieser Natur, den wilden Tieren, den verschiedenen Baumarten. «Wir reden aber auch über unsere Kultur, unsere sprachlichen Besonderheiten, erzählen vom Leben als Bauer und Jägerin.» Die Kinder und Jugendlichen aus dem Unterland sollen die Natur mit allen Sinnen erleben und hätten immer viele Fragen. Nicht nur zur Natur, auch zu ihrem Leben hier auf dem Land. Wollen von Nina Defuns wissen, wie lange sie zum nächsten Kino habe, ob sie nicht lieber in der Stadt leben würde, weil da mehr los sei. Bei solchen Gesprächen müsse sie meistens zuerst einmal schmunzeln. Aber letztlich seien es genau solche Gespräche, die unsere Stadt-Land-Welten näher zueinander brächten. Ihre Mutter weiss: «Die jungen Menschen sind von der Natur viel mehr berührt, als wir vielleicht denken.»
Die Jugendlichen aus Zürich schnipseln das Gemüse und sagen, dass sich das hier wie Freiheit anfühle, erholsam sei. Einer sagt: «Ich fühle mich als Stadtkind schon etwas verloren hier.» Aber eigentlich, finden diese Jugendlichen aus der Stadt, seien die Unterschiede doch gar nicht so gross. Ein Bub fasst es hoffnungsvoll zusammen:
«Am Ende sind wir doch alle eine grosse Gemeinschaft. Wir sind die Schweiz.»