Vielleicht, sagt Faysal, gebe es für den Libanon einfach keine Zukunft. «Vielleicht sind wir nur auf die Welt gekommen, um zu leiden.» Bürgerkrieg, Krieg mit Israel, Wirtschaftskrise, Corona, jetzt die verheerende Explosion. Der Libanon ist ein versehrtes Land. «Wir sind am Ende unserer Kräfte», sagt Faysal.
Der 58-jährige Beiruti, der bereits in der dritten Generation eine kleine Papeterie an der bei Touristen und Einheimischen beliebten Armenia Street betreibt, rückte am 4. August gegen sechs Uhr abends den Postkartenständer zurecht. Er war wie jeden Tag etwas zur Seite gekippt. Acht Minuten später schleuderte die Wucht der Detonation Faysal durch den Laden. Als er sich besann, lagen Teile seines Viertels Aschrafiyya in Schutt und Asche.
An diesem Tag waren rund 2750 Tonnen Ammoniumnitrat in einem Lagerhaus am Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut explodiert – nur 600 Meter von Faysals Papeterie entfernt. Über 200 Menschen starben, mehr als 6000 wurden verwundet, teilweise schwer.
Fassungslosigkeit und Wut
Es regnete Glas vom Himmel. Verletzte wurden durch enge Gassen getragen, geschleppt und gezogen. «Blut, überall Blut», sagt Faysal. «Warum?», fragt er und sackt auf seinem Hocker immer tiefer in sich zusammen. «Warum machen die das mit uns? Verflucht sollen sie sein. Verflucht bis ans Ende der Tage!»
Sie, das ist die Regierung, die sechs Tage nach der Explosion fast in corpore zurückgetreten ist. Sie, das sind die korrupten Eliten, die den Staat und seine Bevölkerung seit Jahrzehnten ausbluten lassen. Sie, das sind Behörden, die seit Jahren um das hoch explosive Material wussten – und die tödliche Gefahr in Kauf nahmen.
Vor Ort bietet sich SonntagsBlick ein Bild der Verwüstung. Von Hand kehren die Menschen die Strassen Beiruts, unterstützt von kleinen Trupps aus Schülern und Freiwilligen. Das Militär markiert Präsenz. Ladenbesitzer verbarrikadieren Eingänge, wo einst Türen waren. Die Fassaden bröckeln, es herrscht akute Einsturzgefahr. Jeder Schritt kann tödlich enden. Noch immer werden zahlreiche Menschen vermisst.
Nach offiziellen Angaben waren mehr als 300'000 Bewohner gezwungen, sich eine neue Bleibe zu suchen. 100 000 verloren auf einen Schlag ihre Arbeit. Hilfsorganisationen haben Stände errichtet, an denen sie Lebensmittel abgeben. Beiruti und syrische Flüchtlinge stehen Schlange. Weil die Explosion am Hafen das grösste Getreidesilo des Landes komplett zerstörte, ist Mehl Mangelware. Vorräte für drei Monate lösten sich in Luft auf. Und jeden Abend protestiert die Bevölkerung auf dem Platz der Märtyrer vor der mächtigen Mohammed-al-Amin-Moschee.
«Alle müssen weg!»
Auch am Samstag versammelten sich wieder zahlreiche Libanesen, sie fordern einen Systemwechsel: «Sie müssen weg! Alle müssen weg!» Die Demonstranten skandieren: «Es ist genug. Tretet zurück oder werdet erhängt!» Steine fliegen, Tränengasgranaten explodieren. Verletzte werden weggetragen.
Das Establishment im Libanon stützt sich auf ein System der Korruption und Vetternwirtschaft – Erbe der französischen Mandatszeit. Eine Teilung der politischen Macht sollte das Gleichgewicht zwischen den grössten Volksgruppen sichern. Der Präsident muss Christ sein, der Premier Sunnit, der Parlamentschef Schiit.
Diese Vermischung von Religion und Politik hat das Land gelähmt. Familiendynastien, darunter mächtige Drusen-Clans, rissen die Reichtümer an sich. So entstand eine Elite, die feudalistisch über das kleine Land am Mittelmeer herrscht.
Monika Schmutz Kirgöz (52) spricht von einem «komplexen Land mit vielen Problemen». «Die Libanesen sagen häufig, die Anführer der Bürgerkriegs-Milizen hätten lediglich einen Anzug übergestreift und begonnen, Politik zu machen», erklärt die Schweizer Botschafterin im Gespräch mit SonntagsBlick. Eine Politik, die in den Augen vieler für die Katastrophe verantwortlich ist. Schmutz Kirgöz nimmt eine «unheimlich grosse» Wut der Menschen auf die Eliten des Landes wahr, die sich nun auf der Strasse entlade.
Aus dem Fenster der Botschaft im 15. Stock an der General Foaad Chehab Street geht der Blick bis zum Hafen. Die Fenster im Büro der Botschafterin sind notdürftig mit Plastikfolie abgeklebt. Die Detonation habe sie quer durchs Büro geschleudert, erzählt Schmutz Kirgöz. «Ohne die Hilfe eines Mitarbeiters, der mich zum nächsten Krankenhaus schleppte, würde ich wohl nicht hier sitzen.»
Die Schweiz hilft
Die Schweiz reagierte. Seit gut einer Woche unterstützen zwei Teams der humanitären Hilfe lokale Behörden bei der Gebäudeinspektion und dem Wiederaufbau von Spitälern. Am Freitag wurden sechs weitere Spezialisten und Material für die Grundversorgung in den Bereichen Chirurgie, Pädiatrie und Geburtshilfe nach Beirut entsandt.
Insgesamt sicherte eine internationale Geberkonferenz dem Libanon vor einer Woche mehr als 250 Millionen Euro Soforthilfe zu, vier Millionen Franken steuerte die Schweiz bei. «Ohne internationale Hilfe kommt dieses Land nicht mehr auf die Beine», betont die Botschafterin. Doch die vielen Millionen sind lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein: Schmutz Kirgöz beziffert den Schaden für die Wirtschaft auf mehrere Milliarden Franken.
Das Geld wird knapp
Allen guten Absichten der internationalen Gemeinschaft zum Trotz: Den Menschen geht das Geld aus, um ihre Familien zu ernähren. Die Währung hat in den letzten Monaten etwa 80 Prozent ihres Werts verloren, die Preise steigen täglich. Milchpulver, Windeln, Wasser, Brot: Was gestern noch bezahlbar war, ist für viele Libanesen nicht mehr erschwinglich. Der Mittelstand stürzt in die Armut.
Und die Banken blockieren das hart ersparte Geld der Libanesen. «Wie soll ich mein Business wieder aufbauen, wenn ich nicht an meine Dollars komme?», fragt Bilal (47), der in Aschrafiyya ein Restaurant betreibt. «Ich kann nur noch zuschauen, wie meine Existenz vor die Hunde geht.» Wie alle hier braucht der Gastwirt das Geld für Mobiliar, einen neuen Kühlschrank, Türen und Fenster.
«Und dann ist ja noch Corona», sagt Bilal. «Ich weiss nicht, ob wir das überleben.»