Minutenprotokoll des Brutalo-Polizeieinsatzes
Die letzten fatalen Momente bevor George Floyd (†46) starb

Auswertungen von Überwachungskameras und Polizeidokumenten zeichnen die letzten rund zwanzig Minuten im Leben von George Floyd nach. Hier ist das Minutenprotokoll des Brutalo-Einsatzes der Polizei in Minneapolis – des Einsatzes, der Amerika in Aufruhr versetzt.
Publiziert: 03.06.2020 um 01:48 Uhr
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Aktualisiert: 10.02.2021 um 18:04 Uhr
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Floyd hat Zigaretten offenbar mit Falschgeld bezahlt. Zwei Angestellte des Shops gehen zu Floyds Wagen und fordern die Zigaretten zurück.
Foto: Screenshot New York Times

Wären nicht Zeugen in der Nähe gewesen und hätten das Drama gefilmt, würden die USA seit Montag, dem 25. Mai, nicht von Floyd-Protesten und -Unruhen heimgesucht. Es war der Tag, an dem George Floyd (†46) kurz vor 20 Uhr an einer Strassenecke in Minneapolis starb – vermutlich an den Folgen von Polizeigewalt.

Videoaufnahmen von Floyds Tod verbreiteten sich wie ein Lauffeuer um den Erdball. Inzwischen sind weitere Aufnahmen aufgetaucht, die die Minuten an der Kreuzung Chicago Avenue und 38th Street zeigen, wo der arbeitslose Türsteher und Wachmann sein Leben verlor.

Floyd hatte eben bei «Cup Foods» Zigaretten gekauft und den Laden wieder verlassen. Das haben Überwachungskameras in der Nähe gefilmt, deren Aufnahmen von der «New York Times» zusammen mit Polizeidokumenten ausgewertet und veröffentlicht wurden. 20 Minuten lang dauert das Drama vom Eintreffen der Polizei bis zu Floyds Bewusstseinsverlust und Tod.

Das Minutenprotokoll

Gezeigt wird, wie Floyd um 19.57 Uhr in sein Auto steigt – einen blauen Mercedes SUV. Im Wagen sind zwei weitere Personen.

Zwei junge Angestellte des «Cup Foods»-Shops gehen über die Strasse zu Floyds Auto und konfrontieren die Insassen des Fahrzeugs: Floyd habe die Zigaretten mit einer gefälschten 20-Dollar-Note bezahlt. Die jungen Männer wollen die Zigaretten zurück. Floyd geht nicht darauf ein. Die beiden ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. Vier Minuten später rufen sie die Polizei.

Der Einsatzzentrale sagen sie: «Jemand kam in unseren Laden und gab uns gefälschte Banknoten. Das merkten wir, bevor er den Laden verliess, also rannten wir raus. Er sitzt da draussen in seinem Auto, ist schrecklich betrunken und hat sich nicht mehr unter Kontrolle.»

Polizist zückt Pistole

Um 20.08 Uhr trifft der erste Streifenwagen ein. Die Beamten Thomas Lane und J. Alexander Kueng steigen aus. Der Mann, der später zum Hauptverantwortlichen für das Drama wird, ist noch nicht dabei. Lane und Kueng gehen über die Strasse zu Floyds Wagen und sprechen ihn an.

20.09 Uhr: Polizist Thomas Lane spricht am Fahrerfenster mit Floyd – und zieht die Waffe. Es bleibt unklar, warum. Floyd solle die «Hände ans Lenkrad» legen, berichtet die «New York Times». Lane steckt die Pistole zurück ins Holster. Das Gespräch geht weiter.

20.10 Uhr: Die Dashcam eines Autos, das hinter Floyds Mercedes geparkt ist, filmt, wie Lane den Tatverdächtigen aus seinem Auto zerrt. Der zweite Polizist vor Ort, Kueng, eilt zu Hilfe, legt Floyd Handschellen an.

Die Überwachungskamera des nahen Restaurants «Dragon Wok» filmt um 20.12 Uhr, wie die Polizisten Floyd zu einer Hauswand führen. Er geht zu Boden, scheint Schmerzen zu haben, verzieht das Gesicht, spricht zu den Beamten. Später geben diese zu Protokoll, Floyd habe nicht in Handschellen gelegt werden wollen.

Der zweite Streifenwagen trifft ein. Floyd scheint nicht aggressiv.

«Ich kann nicht atmen»

20.14 Uhr: Die Polizisten führen Floyd, der weiter Handschellen trägt, Richtung «Cup Foods» auf die gegenüberliegenden Strassenseite. Dort fällt Floyd plötzlich auf den Boden. Ein umparkierter Streifenwagen verdeckt die Sicht.

Laut Polizeidokumenten soll Floyd den Beamten gesagt haben, dass er an Klaustrophobie leidet. Er will deshalb nicht in den Polizeiwagen steigen. Und er sagt zum ersten Mal die Worte, die jetzt um die Welt gehen: «I can’t breathe» – «Ich kann nicht atmen».

Um 20.17 Uhr trifft ein dritter Polizeiwagen ein. Darin sitzt auch Derek Chauvin, der Brutalo-Cop, der inzwischen verhaftet und des Mordes angeklagt wurde. Chauvin versucht, seinen Kollegen zu unterstützen. Beide wollen Floyd auf den Rücksitz des Polizeiautos zwingen. Einer drückt, der andere zieht. Chauvin zieht offenbar so stark, dass Floyd wieder aus dem Auto auf die Strasse fällt.

Floyd auf dem Asphalt

Rund 20 Minuten sind seit dem Zigarettenkauf vergangen. Floyd liegt mit dem Gesicht nach unten auf dem Asphalt. Zu diesem Zeitpunkt beginnen zwei Zeugen beinahe gleichzeitig zu filmen – darunter auch Darnella Frazier (17). Ihr Video geht bald um die Welt.

Das Video des zweiten Zeugen: Er filmt, wie vier Beamte an dem Einsatz gegen Floyd direkt beteiligt sind. Chauvin kniet auf Floyds Nacken. Dies, obschon sich der Tatverdächtige nicht gegen seine Festnahme wehrt. Laut Polizeiregeln wendet Chauvin unverhältnismässige Gewalt an.

Auf Floyds Körper lastet das Gewicht von drei Beamten: Chauvin, Kueng und Lane knien auf den Afroamerikaner ein. Im Video ist um 20.20 Uhr Floyds Stimme zu hören: «Ich kann nicht atmen, Mann! Bitte!»

Polizist Lane fragt noch, ob sie Floyd nicht besser auf die Seite drehen sollen. Chauvin sagt: «Nein!»

Polizei funkt medizinischen Notruf

Um 20.21 Uhr merken die Beamten, dass etwas mit Floyd nicht in Ordnung ist. Sie geben eine Funkmeldung zu einem medizinischen Notfall durch. Floyd blute aus dem Mund. Obwohl medizinische Nothilfe angefordert wird, bleibt Chauvin auf dem Nacken von Floyd knien.

«Was willst du?», fragt einer der Polizisten Floyd. «Ich kann nicht atmen, bitte, das Knie in meinem Nacken… Ich kann nicht atmen», wiederholt der 46-Jährige immer wieder.

«Steh auf, geh ins Auto», ist die Stimme eines Polizisten zu hören. «Ich werde», antwortet Floyd, «ich kann nicht», noch immer mit Chauvins Knie im Nacken. Zweimal schreit er unter Schmerzen: «Mama!» Dann verliert George Floyd das Bewusstsein.

Floyd schliesst die Augen und antwortet nicht mehr

Insgesamt 16-mal in weniger als fünf Minuten habe Floyd zu den Beamten gesagt, er könne nicht atmen, berichtet «New York Times».

20.25 Uhr: Floyds Augen sind geschlossen. Ist er schon tot? Klar ist nur: Er antwortet nicht mehr – während mehrere Passanten die Beamten auffordern, endlich von dem Mann abzulassen. Immer mehr Menschen finden sich an der Stelle ein.

20.27 Uhr: Passanten filmen und brüllen die Beamten an. «Schauen Sie doch, ob er noch Puls hat», fordert jemand. Der Krankenwagen trifft ein. Ein Sanitäter prüft Floyds Puls. Und Officer Chauvin hält weiter sein Knie auf den Nacken des Opfers gedrückt.

Chauvin gibt erst nach, als ein Sanitäter ihn auffordert, vom Mann abzulassen. Dabei reisst Chauvin den leblosen Körper von Floyd etwas hoch und dreht ihn zur Seite. Schliesslich bringen die Sanitäter Floyd in den Rettungswagen.

Um 20.33 Uhr ist der Krankenwagen zwei Strassen weiter. Die Rettungskräfte kämpfen seit Minuten um das Leben von Floyd. Ein Funkspruch an die Zentrale lautet: «Der Patient hat einen vollständigen Herzstillstand erlitten.»

Ladenbesitzer bereut Notruf an Polizei

Inzwischen hat die Polizei in Minneapolis eine eingehenden Untersuchung wegen möglicher diskriminierender Praktiken angekündigt. Richtlinien, Verfahren und Praktiken der vergangenen zehn Jahren wurden untersucht, um herauszufinden, ob die Polizei in Minneapolis systematisch Minderheiten diskriminiert habe. Dabei fordern Floyds Angehörige nicht nur eine härtere Anklage gegen den Ex-Polizisten Chauvin. Sie verlangen auch, dass die anderen drei an dem Einsatz beteiligten Polizisten festgenommen und angeklagt werden.

Mahmoud Abumayyaleh, der Besitzer des «Cup Foods»-Ladens, wo Floyd Stammkunde gewesen sei, äusserte inzwischen sein tiefes Bedauern über den Vorfall und erhob Vorwürfe gegen die Polizei: «Obwohl sich George nie der Festnahme widersetzte, beendete die Polizei George Floyds Leben wegen eines gefälschten Geldscheins. Wahrscheinlich wusste George gar nicht wusste, dass er einen gefälschten Geldschein hatte», schrieb Abumayyaleh auf Facebook.

Es sei ihm nun klar geworden, dass das Einschalten der Polizei selbst bei so harmlosen Vorfällen wie einem gefälschten Geldschein «fast immer mehr schadet, als es nützt». Seine Mitarbeiter würden die Behörden in solchen Fällen künftig nicht mehr alarmieren, «bis die Polizei damit aufhört, Unschuldige zu töten». (kes)

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