Plötzlich geht alles schnell. Am Abend des 9. November 1989 verkündet die DDR-Führung im Fernsehen das Ende des Ausreiseverbots für ihre Bürger. Eigentlich gilt das nur auf Antrag. Doch die Berliner lassen sich nicht mehr stoppen. Wenige Stunden später tanzen Tausende ohne Erlaubnis auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor. Nach 28 Jahren, in denen die Mauer Deutschland zweigeteilt hat. Nach einem halben Jahr, in dem die Bürger auf den Strassen für ihre Freiheit gekämpft haben.
Trotzdem hat diesen schnellen Fall der Mauer keiner erwartet. Auch Uwe Bula (56) nicht. Er ist in Thüringen auf DDR-Gebiet aufgewachsen. Als der Sprecher die Neuigkeit verkündet, hört er sich gerade ein Fussballspiel am Radio an. «Ich dachte, ich hätte mich verhört, und legte mich nach dem Spiel schlafen.» Anderntags, als in seinem Betrieb kaum jemand zur Arbeit erscheint, begreift er. In den Tagen danach sei die Euphorie in der Bevölkerung riesig gewesen, erinnert sich Bula. «Wir hofften, dass mit dem Ende der Diktatur alles besser würde.»
Bula ist einer von vier ehemaligen DDR-Bürgern, mit denen wir gesprochen haben. Sie leben heute in der Schweiz. Wir wollen wissen, was der Mauerfall mit ihnen gemacht hat.
Die Missstände in der Diktatur
Sie und viele andere leben bis 1989 unter der Knute der Staatspartei SED. Viele Fluchtversuche enden in einer Katastrophe. Allein an der Berliner Mauer sterben 140 – weil sie verunglücken oder erschossen werden. 71'000 Menschen kommen wegen «Republikflucht» ins Gefängnis.
Uwe Bulas Freund verschwindet als Teenager hinter Gitter. Weil er «im Suff» die DDR-Fahne verbrannt hat. «Als er rauskam, sprach er mit keinem über die Zeit im Knast.»
Auch die Wahlen sind eine Farce. Die Politiker stehen vorher fest. Und bei jenen, die die Stimmabgabe verweigern, klingeln Parteigenossen an der Haustür. Katrin Bulas Eltern haben das erlebt. «Man konnte niemandem trauen», sagt Uwe Bulas Frau. Bis heute schaut sie sich deshalb ihre Stasi-Akte nicht an. «Ich weiss nicht, ob ich damit umgehen könnte, wenn mich meine Freundin verraten hat.» Eine berechtigte Sorge: Männer verraten damals sogar ihre Ehefrauen.
Schweizer wandern in die DDR aus
Im Alltag herrscht Mangelwirtschaft. Mit leeren Lebensmittelregalen, Schlangestehen für ein Tütchen Kaffee oder zehn Jahren Wartezeit für einen Trabi.
Lange akzeptiert das Volk all das. Auch weil die Mieten, Grundnahrungsmittel, Dienstleistungen und Verkehrsmittel so günstig sind. Was viele nicht sehen wollen: Das alles funktioniert nur, weil der Staat es subventioniert. Die DDR lebt auf Pump. Beim Klassenfeind, wie die Bundesrepublik Deutschland (BRD) bezeichnet wird, steht sie 1989 arg in der Kreide: der Schuldenberg wächst um 500 Millionen – pro Monat.
In diesen Staat DDR wandern auch 30 Schweizer ein. Einige treten als stramme Kommunisten sogar in die Staatspartei SED ein, wie der «Beobachter» 1999 enthüllt.
1989 hat die Bevölkerung aber genug. Eine Bürgergruppe weist im Frühling der Staatsführung zum ersten Mal Wahlfälschung nach. Fortan gehen jede Woche Tausende von DDR-Bürgern auf die Strasse – die sogenannten Montagsdemonstrationen beginnen. Unter die Demonstranten mischen sich auch unzufriedene Umweltaktivisten, die die DDR-Städte von der dicken Smogglocke befreien wollen. Ab Sommer flüchten massenhaft DDR-Bürger in die Gärten von westdeutschen Botschaften – in Prag, Warschau und Budapest. Unter dem Druck der Sowjetunion muss die DDR-Führung sie ausreisen lassen.
Im September öffnet Ungarn für DDR-Bürger seine Grenze zu Österreich. Und am
4. November demonstrieren eine halbe Million Menschen auf dem Alexanderplatz in Berlin. Der Todesstoss für das Regime. Ein Jahr später folgt die Wiedervereinigung.
«Ostalgie» vernebelt die Realität
Heute ist die Stimmung anders. Die «Ostalgie» – die Sehnsucht nach der DDR – erfasst ganze Landstriche. Umfragen zeigen, dass nur knapp 50 Prozent der Ostdeutschen die einstige DDR als Unrechtsstaat sehen. Ehemalige Ost-Produkte wie Rotkäppchensekt und Spreewaldgurken boomen. Und in manchen Regionen feiern die Bürger heute noch die Jugendweihe – den Festakt, mit dem die DDR damals Jugendliche symbolisch in die Gemeinschaft aufnimmt. Für viele Ostler ist die DDR heute eine Idealwelt: ein Land, in dem alle gleich viel (oder eben gleich wenig) haben, ein Staat ohne Arbeitslosigkeit.
Die Geschichten der ehemaligen DDR-Bürger Estermann, Schumacher und der Bulas zeigen aber: Von Gleichheit kann keine Rede sein. Die eine wächst mit Privilegien auf, weil der Vater einen guten Staatsposten hat. Der andere, weil er durch seine sportliche Leistung als Aushängeschild dient. Trotzdem sehen heute alle das Leid, das die Diktatur hervorgebracht hat.