Am zweithöchsten Berg der Welt, dem K2, haben sich Ende Juli dramatische Szenen abgespielt: In einem Video ist zu sehen, wie etwa 50 Bergsteiger über einen sterbenden Mann hinwegklettern, um auf den Gipfel des 8611 Meter hohen Berges zu kommen. Der österreichische Bergsteiger Wilhelm Steindl kritisiert dieses Verhalten nun scharf. Er spricht von «menschenverachtenden» Szenen.
Auch der Schweizer Alpinist Raphael Wellig (58) hat sich das Video mit den Szenen auf einer Höhe von 8200 Metern angesehen. Zu Blick sagt er: «So etwas zu sehen, ist unbeschreiblich hart.» Wellig selbst ist 2019 auf dem Berg Le Grammont im Kanton Wallis von einer Lawine überrascht worden und musste aus den Schneemassen gerettet werden. Trotz des einschneidenden Erlebnisses verbringt er etwa 80 Tage pro Jahr in den Bergen.
Bergsteiger werden zu Egoisten
Wegen der grossen Schwierigkeiten bei Rettungen in grossen Höhen hält Wellig fest: «Manche Bergsteiger wollen oder können dort oben ihr eigenes Leben gar nicht für einen anderen Menschen aufs Spiel setzen.»
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Aber der erfahrene Alpinist übt auch Kritik. «Viele Bergsteiger werden, vor allem auf so hohen Bergen, zu Egoisten. Sie haben nur ein Ziel, in das sie viel Zeit und oftmals auch viel Geld gesteckt haben.» Jemandem zu helfen und dafür den Gipfelerfolg zu opfern, kommt für viele nicht infrage. «Um ihr Ziel zu erreichen, gehen sie dann sogar über Leichen – wie etwa auf dem Video zu sehen ist.»
Wellig spricht von einem negativen Trend bei den Bergsteigern. «Immer mehr Alpinisten geht es um das eigene Ego, Selbstverwirklichung und die eigene Vermarktung. Manche Bergsteiger ticken schon wie diese Influencer», erklärt er. «Und auch in der Schweiz verrohen die Sitten am Berg.»
Konkurrenz statt Kameradschaft
Wellig erlebt immer wieder, dass keine Rücksicht mehr auf andere Bergsteiger genommen wird: «Früher ist man ausgewichen, wenn es an einem Berg Gedränge gab oder hat sich sonst achtsam verhalten. Man ist beispielsweise nicht auf das Seil des anderen gestanden oder hat auch einmal eine Schraube drin gelassen. Heute gibt es das kaum noch.» Wo früher die Kameradschaft gezählt habe, gebe es heutzutage Konkurrenzkampf. «Vor allem in der Hochsaison, die aktuell läuft, fallen alle Hemmungen. Es gibt einen regelrechten Run auf die Viertausender in der Schweiz, vor allem auf die Hotspots wie Matterhorn, Dom, Dufourspitze und Alphubel», sagt Wellig. «Die Hütten sind voll, an den Bergen herrscht enormes Gedränge. Alle sind gestresst.»
Das geht so weit, dass nicht einmal mehr in Ausnahmesituationen anständig miteinander umgegangen werde. «Es kommt nicht einmal ein Dank zurück, wenn man jemandem irgendwie hilft oder für eine Person in Not den Heli ruft», sagt Wellig. Er meint, dass der Respekt und die Ehrfurcht verloren gegangen seien. Auch, weil Bergsteigen immer beliebter wird, was wiederum negative Effekte hat. «Es gibt viele unerfahrene Alpinisten, die denken, dass man sich ein Erlebnis erkaufen kann um die Bürokollegen oder die Freunde zu beeindrucken.»
Schwierige Bedingungen
Vor diesem Hintergrund versteht Wellig die Kritik an den Szenen am K2, doch geht ihm diese etwas zu weit: «Jeder erfahrene Bergsteiger rechnet bei so einem Berg damit, dass er nicht mehr lebend zurückkommt und weiss, dass er ab einer gewissen Höhe – also ab rund 7000 Metern – auf sich selbst gestellt ist.» Ab 7000 Meter über Meer spricht man von der Todeszone.
Eine Rettung sei auf dieser Höhe fast unmöglich: «Das Gebiet ist extrem heikel, die Verhältnisse schwierig. Sogar Sherpas haben da Mühe», sagt Wellig, der schon auf einem Achttausender stand. Eine Chance sieht er nur dann, wenn sich eine grössere, erfahrene Gruppe zusammenschliesst.
Wie hart eine Rettung in grosser Höhe sein kann, erlebte der Berner Höhenbergsteiger im Jahr 1988 am Gasherbrum II (8035 M.ü.M.) in Pakistan. Wellig erinnert sich: «Gemeinsam mit zwei Kollegen konnte ich damals einen Mann retten, der auf rund 7000 Metern Höhe ein Hirnödem erlitten hatte». Obwohl der Mann noch gehen konnte, brauchten Wellig und seine Kollegen 22 Stunden, um den Bergsteiger ins Basislager auf rund 5000 Meter zu bringen.