Am 27. Juli spielen sich auf dem zweithöchsten Berg der Welt, dem K2, dramatische Szenen ab. 200 Bergsteiger machten sich laut dem österreichischen Bergsteiger Wilhelm Steindl an diesem Tag auf den Weg, darunter auch der unerfahrene pakistanische Helfer Mohammed Hassan.
Ein Kameramann und Kollege von Steindl filmt die Besteigung – und macht im Basiscamp beim Sichten der Aufnahmen eine schockierende Entdeckung, wie dieser dem «Standard» berichtet. Steindl selbst war an diesem Tag bereits wegen der gefährlichen Verhältnisse am Berg umgedreht. Zwei Lawinen waren bereits abgegangen.
K2-Bergsteiger kämpfte drei Stunden ums Überleben
Die Aufnahmen zeigen, wie ein Mann den Oberkörper des im Sterben liegenden Hassan massiert. Offenbar, um ihn am Leben zu halten. Er war zuvor abgestürzt, hing eine Dreiviertelstunde kopfüber, mit entblössten Beinen im Seil – auf 8200 Metern Höhe.
Wie «Explorersweb» unter Berufung auf den Kameramann Philip Flaemig berichtet, dauerte der Überlebenskampf des Bergsteigers insgesamt drei Stunden. So zeigen Drohnenaufnahmen, die «Explorersweb» vorliegen, dass er sich um 5.30 Uhr noch bewegt hat. Zum verheerenden Sturz war es bereits um 2.20 Uhr gekommen. Mohammed Hassan überlebt den tragischen Vorfall nicht.
Er griff noch nach den Füssen anderer Bergsteiger
Steindl prangert gegenüber dem «Standard» die «menschenverachtenden» Szenen an: «Über die Erzählung von drei unterschiedlichen Augenzeugen kann ich berichten, dass dieser Mann noch gelebt hat, während etwa 50 Leute an ihm vorbei gestiegen sind.»
Nach dem Unfall sei an der Absturzstelle einfach ein neues Seil fixiert worden, damit die restlichen Bergsteiger weitergehen konnten – während unter ihnen ein Mann im Sterben lag. Doch damit nicht genug: «Augenzeugen haben uns sogar berichtet, dass der Mann nach den Füssen anderer Bergsteiger griff, um Hilfe zu bekommen», so Steindl weiter.
Absteigende Bergsteiger fanden lebende Person vor
Steindl sagt, es habe keine organisierte Rettungsaktion gegeben, obwohl es Bergführer und erfahrene Sherpas am Berg gehabt hätte. «Zum Teil gehen die Aussagen so weit, dass die Leute, die vom Gipfel zurückkamen, immer noch eine lebende Person angetroffen haben.»
Steindl sagt der österreichischen Zeitung schockiert: «Er ist dort elendig verreckt. Es hätte nur drei, vier Leute gebraucht, ihn runterzubringen.» Weil wegen des Wetters wohl keine spätere Besteigung des K2 möglich gewesen sei, sei das Datum die letzte Möglichkeit der anwesenden Bergsteiger gewesen, den Gipfel zu erreichen.
Bergsteigerin rechtfertigt sich
Gegenüber «Explorersweb» sagt die bekannte Bergsteigerin Lakpa Sherpa: «Vor seinem Unfall sagten ihm einige Sherpas mehrmals, er solle zurückgehen, weil seine Kletterausrüstung und Kleidung sehr dürftig waren, aber er hörte nicht zu.» Sie vermute, dass er sich nach seiner Verletzung möglicherweise nicht mehr bewegen konnte. Es sei ausserdem äusserst schwierig, von der besagten Stelle am Berg – dem «Flaschenhals» – jemanden herunterzubringen.
Augenzeugin Silvia Azdreeva bestieg an diesem Tag den Berg. «Ein Mensch starb vor meinen Augen. Einen Moment lang war er noch am Leben und dann mussten wir auf dem Rückweg über seine Leiche auf der Eiskante springen, an der wir vorbeikamen», erzählt sie «Explorersweb». Azdreeva rechtfertigte die Fortsetzung ihres Vorstosses mit den Worten: «Es gibt niemanden, der dich so schnell retten kann, du musst tagelang warten.»
«Wir haben alles für ihn getan, was wir konnten»
Auch Rekordjäger waren am Berg, darunter die Norwegerin Kristin Harila, die alle 14 Achttausender in 92 Tagen bestieg – auch dank der Hilfe von Helikoptern und unzähligen Sherpas. Steindl zum «Standard»: «Was da passiert ist, ist eine Schande. Da wird ein lebender Mensch liegengelassen, damit Rekorde erzielt werden können.»
Nachdem sie ordentlich Kritik sammelte, teilte Harila per Instagram mit, dass sie zusammen mit anderen Bergsteigern versuchte, Hassan zu bergen. «Wir haben alles für ihn getan, was wir konnten. Wir verbrachten 1,5 Stunden im Engpass und versuchten, ihn hochzuziehen – am gefährlichsten Teil des tödlichsten Berges der Welt.» Sie gaben dem Verletzten Wasser und versuchten ihn zu wärmen. Jedoch sei Hassan nicht gut ausgerüstet gewesen. Er habe keinen Daunenanzug und keine Handschuhe getragen. Nach einem Lawinenalarm entschied sich Harila schliesslich, weiterzugehen: «Wir beschlossen, weiterzumachen, da zu viele Menschen in der Engstelle eine Rettung gefährlicher machen würden.» Denn Sherpas hätten ihr gesagt, sie würden umkehren. Sie dachte, Hassan würde «jede Hilfe bekommen».
«Die Schwere des Geschehens wurde uns erst später bewusst»
Harilas Kameramann Gabriel blieb sogar noch eine Stunde länger bei Hassan, konnte ihm aber kaum helfen. Schliesslich musste auch er weiterziehen, wie Harila erklärt: «Irgendwann hatte Gabriel fast keinen Sauerstoff mehr und erkannte, dass er, wenn er selbst an diesem Tag nach Hause kommen wollte, mehr Sauerstoff holen musste.» Dafür habe er höher klettern müssen, wo Sherpas mit Sauerstoffreserven warteten.
«Ich glaube nicht, dass die Menschen beim Klettern die Schwere dessen verstanden haben, was mit Hassan geschah. Deshalb sehen wir, dass sie über ihn hinwegsteigen, um sich auf der anderen Seite in Sicherheit zu bringen. Die Schwere des Geschehens wurde uns erst später vollständig bewusst», schreibt sie weiter. Für sie und alle anderen Beteiligten sei das Ganze «herzzerreissend» und «traumatisierend» gewesen.
Dennoch feierte Harila später ihren Triumph im Basislager, sagt Steindl. «Sie ist Teil des Systems, das an diesem Tag versagt hat. Zu ihrer Feier nachher im Basislager wollte ich nicht mehr. Es hat mich angewidert. Da ist ein Mensch oben gestorben.» Steindl suchte nach dem Drama die Witwe von Mohammed Hassan auf. Sie wird vom Arbeitgeber ihres Mannes dessen Gehalt nicht erhalten – weil er seine Arbeit nicht vollendet habe.
Untersuchung eingeleitet
Um zu klären, wie es zu dem tragischen Tod des K2-Bergsteigers kommen konnte, hat die Regionalregierung der Provinz Gilgit-Baltistan inzwischen eine Untersuchung eingeleitet. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen innerhalb von zwei Wochen vorliegen.
Auch Zeugen sollen dazu befragt werden. «Die wichtigste Aussage wäre die des anderen Höhenträgers», sagte Rahat Karim Baig, Mitglied einer Untersuchungskommission, der dpa am Donnerstag. Dieser habe mit dem später verunglückten Mann das Seil befestigt und ihn fallen gesehen.
«Jemand hätte dem armen Kerl helfen müssen»
«Es ist bedauerlich, dass niemand anhielt, um dem sterbenden Mann zu helfen», sagte Abu Zafar Sadiq, Präsident des pakistanischen Alpinclubs, der dpa. Mehrere Lawinen seien am Unglückstag an einem Engpass am K2 ausgelöst worden. «Einige der Bergsteiger wurden von den Lawinen getroffen, aber zum Glück wurde niemand mitgerissen», sagte Sadiq weiter. «Wie auch immer die Umstände waren, jemand hätte dem armen Kerl helfen müssen.»
Immer wieder kommt es im pakistanischen Gebirge und den angrenzenden Ländern im Himalaya zu tödlichen Unfällen. Der 8611 Meter hohe K2 in Pakistan gilt als extrem schwierig. Gründe sind unter anderem die steile Route und die Lawinengefahr. (neo/nad/mrs)