Ich will die Corona-Krise nicht romantisieren. Das wäre respektlos gegenüber Mitmenschen, die von Angst aufgefressen werden, weil ihre Gesundheit, ihr Geschäft oder ihr Arbeitsplatz akut bedroht sind. Und es wäre pietätlos gegenüber den Opfern des Virus sowie ihren Angehörigen.
Aber es ist mehr als legitim, verblüfft zu registrieren, wie rasant sich jetzt alles verändert: Vor gut einem Monat standen die Börsenkurse noch auf Rekordhoch, die Arbeitslosenzahlen auf Rekordtief, die ganze Welt schien voller Kraft und Zuversicht.
Nun sind Geschäfte und Restaurants geschlossen. Die Flugzeuge am Boden. Die Züge leer. Die Strassen wie ausgestorben. Wir erleben die erste Mobilmachung der Schweizer Armee seit dem Zweiten Weltkrieg. Die teuerste Rettungsaktion in der Wirtschaftsgeschichte. Die grösste Rückführung von Schweizerinnen und Schweizern aus dem Ausland.
Was macht das alles mit uns?
1. Plötzlich haben wir Zeit. Obwohl man kaum noch Freunde treffen kann, werden viele Kontakte intensiver. Jeder scheint plötzlich erreichbar zu sein, mit genügend Lust für ausgedehnte Telefongespräche, virtuelle Jassrunden, einen Apéro via Skype ...
2. Viel fehlt uns nicht. Menschen, die in ihrem bisherigen Leben von Termin zu Termin hetzten und gar nicht genug unternehmen konnten, stellen plötzlich fest, dass ihnen von dem, was sie bisher für unverzichtbar hielten, kaum etwas fehlt.
3. Wir schlafen länger. Das Leben ist entschleunigt, im Homeoffice fällt sogar der Arbeitsweg weg, fast alle Termine sind abgesagt: Zeit zum Erholen!
4. Die Schweiz wird digital. Plötzlich weiss jeder, wie Videokonferenzen funktionieren, wie man online einkauft, wie bequem E-Learning sein kann. «Krisen beschleunigen historische Prozesse. Ganze Länder sind jetzt ein riesiges soziales Versuchslabor», schreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari.
5. Homeoffice funktioniert. Die meisten können sehr gut zu Hause arbeiten – doch fast jeder vermisst den Austausch mit Kollegen und sehnt sich nach dem Arbeitsplatz im Unternehmen. Wer hätte das gedacht?!
6. Plötzlich sind die Strassen frei. Wir können ohne Stau direkt in die Stadtzentren fahren und erleben – wie in einer Zeitreise –, wie sich das Leben vor Jahrzehnten anfühlte.
7. Politik geht auch ohne Streit. Von den Grünen bis zur SVP stehen alle geschlossen hinter den bundesrätlichen Notmassnahmen. Da keimt sogar die Hoffnung, dass einige seit Jahren ungelöste Probleme – Sozialwerke, Europa, Klima – im Schwung der ausserordentlichen Konsenskultur gelöst werden können.
8. Denunzianten haben Hochkonjunktur. So verblüffend es ist, wie diszipliniert die Schweizerinnen und Schweizer zu Hause bleiben, so verblüffend ist es auch, wie viele Zeitgenossen sofort melden, wenn die betagte Nachbarin das Haus verlässt oder irgendwo mehr als fünf Menschen beisammen stehen.
9. Armee und Zivilschutz geniessen Respekt. Die Kritik an den Sicherheitsorganisationen wirkt wie weggefegt, sogar der Spott über ineffiziente Wiederholungskurse ist verstummt. Und niemand lacht mehr über Menschen, die Notvorräte anlegen.
10. Wenn es drauf ankommt, sind wir schnell. Normalerweise erscheint unser staatliches System wie das langsamste der Welt. Im Notfall aber kann die Eidgenossenschaft innert Tagen Milliardenkredite für Unternehmen in Not bereitstellen und Tausende von Schweizern aus dem Ausland heimholen.
Seit 1945 erlebt unser Land einen nahezu fortwährenden Aufschwung und einen historisch einmaligen Wohlstand, eine schier unbegrenzte Fülle von Möglichkeiten für alle und jeden. Nun jedoch stehen die Schweizerinnen und Schweizer erstmals wieder vor der fundamentalen Erkenntnis – und einer Lehre für die Zukunft: Nichts ist selbstverständlich!