Interview mit Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk
«Ich bin fünf Mal geimpft»

Der türkische Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk (69) über seinen neuen Roman «Die Nächte der Pest», unsere Pandemie und die Prinzeninseln vor Istanbul.
Publiziert: 14.02.2022 um 10:31 Uhr
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Aktualisiert: 15.02.2022 um 09:01 Uhr
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Am 10. Dezember 2006 bekam der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk den Nobelpreis für Literatur vom schwedischen König Carl Gustav überreicht.
Foto: Keystone
Interview: Daniel Arnet

Herr Pamuk, was machten Sie am 11. Januar 2020?
Orhan Pamuk: Warten Sie, ich führe Tagebuch (er zückt ein handschriftliches Notizheft). Hier sind meine Einträge für Januar 2020: Der iranische Staat bekennt sich zum Abschuss eines ukrainischen Verkehrsflugzeugs, meine jüngere Halbschwester kommt von Washington nach New York, um mich zu besuchen …

Schrieben Sie damals auch an Ihrem neuen Roman «Die Nächte der Pest»?
Ja, ich war damals stark damit beschäftigt – ich schrieb insgesamt dreieinhalb Jahre daran. Aber ich habe die letzten 40 Jahre darüber nachgedacht.

Sie schreiben ein Buch über eine Seuche, und am 11. Januar 2020 vermeldet China den ersten Corona-Toten. Was dachten Sie, als Sie davon hörten?
Ich dachte, das ist etwas wie Sars, das sich nicht in meine Weltgegend ausbreitet. Ich sah Menschen, die Masken trugen und dachte: «Mein Gott, das wäre schrecklich, so leben zu müssen.» Und jetzt trage ich selber Maske.

Nobelpreisträger auf Anklagebank

Orhan Pamuk kommt 1952 in Istanbul zur Welt – als zweiter Sohn einer westlich orientierten Familie, welche die Modernisierung der Türkei durch Staatsgründer Kemal Atatürk (1881–1938) unterstützte. Zu Hause kommt Pamuk mit der Weltliteratur in Berührung, will aber zunächst Maler werden. Er beginnt ein Architekturstudium, macht dann aber einen universitären Abschluss als Journalist. 1974 beginnt er seinen ersten Roman, der 1982 erscheint. Im gleichen Jahr heiratet er Aylin Türegün, mit der er eine Tochter (*1991) hat. 2005 bekommt Pamuk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2006 den Nobelpreis für Literatur. Heute ist er Professor für kreatives Schreiben an der Columbia University New York. «Die Nächte der Pest» ist sein elfter Roman. In seiner Darstellung des Offiziers Kamil sieht ein Rechtsanwalt aus Izmir eine Verunglimpfung Atatürks und klagte Pamuk im November 2021 an. Doch Kamil ist nicht Kemal: Der Autor sagt in diesem Interview deutlich, dass der Roman keine Allegorie auf Atatürk sei. Pamuk lebt in Istanbul, wo er das Haus bewohnt, in dem er aufwuchs.

Orhan Pamuk 2018 in Spanien.
NurPhoto via Getty Images

Orhan Pamuk kommt 1952 in Istanbul zur Welt – als zweiter Sohn einer westlich orientierten Familie, welche die Modernisierung der Türkei durch Staatsgründer Kemal Atatürk (1881–1938) unterstützte. Zu Hause kommt Pamuk mit der Weltliteratur in Berührung, will aber zunächst Maler werden. Er beginnt ein Architekturstudium, macht dann aber einen universitären Abschluss als Journalist. 1974 beginnt er seinen ersten Roman, der 1982 erscheint. Im gleichen Jahr heiratet er Aylin Türegün, mit der er eine Tochter (*1991) hat. 2005 bekommt Pamuk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2006 den Nobelpreis für Literatur. Heute ist er Professor für kreatives Schreiben an der Columbia University New York. «Die Nächte der Pest» ist sein elfter Roman. In seiner Darstellung des Offiziers Kamil sieht ein Rechtsanwalt aus Izmir eine Verunglimpfung Atatürks und klagte Pamuk im November 2021 an. Doch Kamil ist nicht Kemal: Der Autor sagt in diesem Interview deutlich, dass der Roman keine Allegorie auf Atatürk sei. Pamuk lebt in Istanbul, wo er das Haus bewohnt, in dem er aufwuchs.

In «Die Nächte der Pest» schreiben Sie: «Im Handumdrehen luden Quarantänebeamte mit Gesichtsmasken und Handschuhen die Sachen der beiden Trödler (…) auf einen grossen Pferdewagen.» Sind Sie Hellseher?
Nein, überhaupt nicht – ich bin ein ganz normaler Mensch. Pandemien gab es immer wieder, aber die Menschheit erinnert sich nicht gern daran. Dabei gibt es wunderbare Bücher darüber, in denen man das nachlesen kann.

Welche?
Die besten Bücher, die je über Seuchen geschrieben wurden, sind «Die Pest zu London» von Daniel Defoe, «Die Brautleute» von Alessandro Manzoni und «Die Pest» von Albert Camus – geschrieben von Menschen, die nicht in einer Pandemie lebten.

Und Sie leben nun mittendrin.
Ja, dabei dachte ich noch, ich schreibe nun das viertbeste Buch über eine Pandemie von einem, der das nicht erlebt hat (lacht).

Ist «Die Nächte der Pest» ein Roman, der Realität wurde, oder eine Realität, die zum Roman wurde?
Beides. Aber vergessen Sie nicht: Bei der Pest starb einer von drei Menschen, bei Corona ist es einer von hundert.

Weshalb ist die Welt trotzdem im gleichen Mass erschreckt?
Zu Beginn der Pandemie, als es noch keine Impfung gab, starben die Menschen wie Fliegen. Das habe ich selber gesehen.

Wo denn?
Meine Tante, die 94 war und hier in Istanbul ein gutes Leben führte, starb gleich zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020. Mein Cousin hängte sie ans Beatmungsgerät – schrecklich! Schrecklich! Es half nichts. Wir konnten nicht mal zu ihrer Beerdigung gehen. Die Behörden nahmen ihren Leichnam und verscharrten ihn irgendwo.

Fast wie eben aus Ihrem Roman zitiert! Wie kamen Sie selber durch die Pandemie?
Im März 2020 – vor dem ersten Lockdown – war ich in New York, rannte zum Flughafen und flog zurück nach Istanbul, wo ich ein hübsches Haus mit 20’000 Büchern habe. Seither schrieb ich jeden Tag.

Ist Isolation für einen Schriftsteller nicht so schlimm, weil sie zu seinem Beruf gehört?
Ja, während des Tages, wenn man schreibt. Aber danach fühle ich mich sehr einsam. Ich bin ein Südländer, mein Herr, ich brauche Freunde! Wenn ich zehn Stunden arbeite und danach niemanden sehe, werde ich nach ein paar Tagen verrückt.

Blieben Sie stets gesund?
Vor etwa zwei Wochen hatte ich eine Erkältung, aber es war nicht Corona. Zuerst dachte ich, es sei Corona. Das war ein übler Tag, schliesslich bin ich über 65. Aber ich bin fünf Mal geimpft.

Fünf Mal?
Die türkischen Behörden setzten zuerst auf das chinesische Sinovac – da brauchte es zwei Spritzen. Danach bekam ich noch drei von Biontech.

Ein richtiger Impf-Cocktail!
Ja, ich sinnierte darüber nach, noch Moderna zu bekommen.

Und danach das russische Sputnik, um abzuheben!
Perfekt! (lacht)

Nach all diesen Erfahrungen: Änderten Sie etwas an Ihrem Roman «Die Nächte der Pest»?
Alle Details darüber, was eine Quarantäne bedeutet, löschte ich. Aber es gibt auch neuere Reaktionen auf die Corona-Krise, die es bei den Pestausbrüchen nicht gab – die nahm ich nicht in den Roman auf.

«Die Nächte der Pest» spielt 1901 während der historisch verbürgten dritten Pest-Pandemie auf einer fiktiven Mittelmeerinsel namens Minger, auf der Griechen und Türken leben. Ist Zypern das reale Vorbild für Minger?
Ich war schon dort, ich mag die Insel, aber Zypern ist nicht das Vorbild. Es sind vier andere Orte, die mich zu Minger inspirierten.

Welche?
Zunächst die griechische Insel Kreta; dann Kastellorizo, die östlichste griechische Insel vor der Küste der Türkei; weiter der türkische Ort Bodrum, dessen Burg das Vorbild für die auf Minger ist; und schliesslich die Prinzeninseln vor Istanbul, wo ich die letzten 40 Sommer verbrachte.

Sie mögen Inseln offensichtlich.
Ich liebe sie! Wenn ich als Kind auf den Prinzeninseln war und der Fähren wegen eines Sturms nicht mehr nach Istanbul verkehrten, war ich so glücklich.

Auf Minger ist man über die Isolation nicht glücklich, denn französische, britische und osmanische Kriegsschiffe blockieren die Insel nach dem Pestausbruch. Ist Quarantäne die einzige Lösung?
Wenn es keine Impfung gibt, ja.

Griechen und Türken geben sich auf Minger gegenseitig die Schuld am Ausbruch der Pest. Ist Nationalismus eine Folge solcher Seuchen?
1901 brauchte es keine Pest, um Nationalist zu sein – jeder war ein Nationalist.

Jetzt während der Corona-Pandemie gibt es wieder weltweit nationalistische Tendenzen. Warum glauben Regierungen, ein globales Problem besser einzeln auf Länderebene lösen zu können?
Sie können es natürlich nicht. Als ich am Schreiben des Romans war, hoffte ich, dass uns die Pandemie eine Weltregierung bringen kann. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sollte stärker sein. Aber das ist eine Utopie, denn Russland und die USA bekämpfen sich wie Hund und Katz.

Der neue Nationalismus zeigte sich auch darin, dass der frühere US-Präsident Donald Trump Corona als «chinesisches Virus» bezeichnete und Delta zuvor «indische Variante» hiess.
Die kommen ja wirklich aus China und Indien, aber solche Begriffe sind sofort Teil eines ideologischen Unterdrückungssystems. Das ist Populismus, was will man machen?

Aber wieso suchen wir das Übel immer im Gegenüber?
Weil wir so gute Menschen sind – naiverweise glauben wir das wirklich (lacht). Nur die Katholiken sind anders, die glauben, dass sie durch die Erbsünde das Übel in sich haben.

Die Griechen auf der Roman-Insel Minger sind Christen, die Türken Muslime. Verstärkt Religion nationalistische Tendenzen?
Ich glaube, die gemeinsame Sprache ist entscheidender. Es gibt keinen Nationalismus ohne Religion, aber Nationalismus kann man nicht auf Religion reduzieren.

In einem Artikel für die «New York Times» schrieben Sie 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie: «Historisch betrachtet waren Muslime schon immer schwieriger als Christen davon zu überzeugen, Quarantäneregeln zu akzeptieren.» Tatsächlich?
Ja, aber nicht weil sie Muslime waren, sondern weil sie weniger gebildet waren als Christen.

Was hat das mit Bildung zu tun?
In der dritten Pest-Pandemie von 1894 bis 1911 kamen in Asien 20 Millionen Menschen ums Leben, in der westlichen Zivilisation bloss 20 Personen. Das hat mit Wissen zu tun: Als die Schiffe aus Asien in europäischen und US-Häfen ankerten, töteten sie die Ratten und deren Flöhe, die die Pest übertrugen, mit Gas.

Aber Muslime kennen religiöse Reinigungsrituale.
Doch die Brunnen in den Höfen der Moscheen sind gerade jetzt während der Corona-Pandemie perfekte Orte für einen Super-Spreader-Event.

Schlossen die türkischen Behörden deshalb zeitweise alle Moscheen?
Ja, obwohl wir eine islamische Regierung haben, ergriff sie ultrasekulare Massnahmen – wie Menschen reagieren Länder und Regierungen manchmal unvorhersehbar.

«Es lebe Minger! Es leben die Mingerer! Es lebe die Freiheit!», lauten die letzten Sätze in «Die Nächte der Pest». Ist die Freiheit nach überstandener Pandemie wertvoller?
Mein Roman ist eine historische Fiktion – er ist keine Allegorie auf Kemal Atatürk oder sonst was. Aber der letzte Satz ist eine Ausnahme: Wenn ich schreibe: «Es lebe die Freiheit!», sage ich zugleich: «Freiheit für die heutige Türkei!» Denn es gibt keine komplette Demokratie in der Türkei, weil es hier und heute keine Redefreiheit gibt. Auf das spiele ich an – und alle meine Leserinnen und Leser verstehen das sofort.

Wird unser Leben nach der Corona-Pandemie ein anderes sein?
Schauen Sie auf die Cholera-Ausbrüche im 19. Jahrhundert. All die Abwassersysteme in den Städten verdanken wir diesen Ereignissen. Und so wird Corona zu grosszügigeren Plätzen und mehr Internet führen. Und zum Glücksgefühl, wenn wir draussen frei rumlaufen können.

Welches wird Ihr nächstes Projekt sein?
Ich möchte mit einem Roman beginnen – basierend auf einer Hauptfigur meines Alters, meiner Kultur, meines Istanbuls. Aber er ist kein Schriftsteller, sondern ein Maler.

Sie wollten ja ursprünglich Maler werden.
Ja, das ist die Tragödie oder Komödie meines Lebens.

Immerhin ist der Buchumschlag von «Die Nächte der Pest» von Ihnen gemalt.
Nicht nur das: In den letzten 15 Jahren bin ich zur Malerei zurückgekehrt, aber ich zeigte das niemandem.

Schade!
Aber diesen September gibt es in Istanbul eine grosse Ausstellung basierend auf meinem schriftstellerischen Werk, meinen Malereien und meinen Fotografien. Ich zeichne ja sogar jeweils in mein Tagebuch, schauen Sie! (Er zeigt eine andere Seite aus seinem Tagebuch von Januar 2020.)

Historisches Panorama mit Parallelen zur heutigen Pandemie

«Als Bayram Efendi fünf Tage zuvor die ersten Anzeichen der Krankheit verspürt hatte, wollte er sie nicht ernst nehmen.» Der Kerkerwächter auf der Burg der fiktiven Insel Minger zwischen Kreta und Rhodos ist dort 1901 das erste Pestopfer. Wer brachte die Seuche auf Minger? Die muslimischen Türken aus Mekka? Die christlichen Händler aus Alexandria? Nobelpreisträger Orhan Pamuk entwirft in diesem grossen Roman ein buntes Panorama, das erstaunlich viele Parallelen zur heutigen Pandemie aufweist.

«Als Bayram Efendi fünf Tage zuvor die ersten Anzeichen der Krankheit verspürt hatte, wollte er sie nicht ernst nehmen.» Der Kerkerwächter auf der Burg der fiktiven Insel Minger zwischen Kreta und Rhodos ist dort 1901 das erste Pestopfer. Wer brachte die Seuche auf Minger? Die muslimischen Türken aus Mekka? Die christlichen Händler aus Alexandria? Nobelpreisträger Orhan Pamuk entwirft in diesem grossen Roman ein buntes Panorama, das erstaunlich viele Parallelen zur heutigen Pandemie aufweist.

Der Roman «Die Nächte der Pest» von Orhan Pamuk erscheint heute Montag auf Deutsch bei Hanser

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