Was war so dringlich und so wichtig, dass sich das Parlament in der vergangenen Woche in der Bundesstadt zu einer ausserordentlichen Session zusammenfand? Welches Geschäft konnte nicht warten? Wie kam es, dass sogar die notorischen Schwänzer zur Sitzung an die Aare fuhren und bis drei Uhr früh im Palais fédéral sessionierten, wenn nichts davon eine Folge hatte und die Verordnung des Bundesrats vom 16. März unumstösslich in Kraft trat?
Was war der Grund für die Session? Der Wahlkampf? Ist eine ausserordentliche Session ein taugliches Mittel, um die Lust der Wählerinnen zu stimulieren? Muss man nicht fürchten, dass nach dieser Nullnummer die Politikverdrossenheit weiter zunimmt?
Oder ging es um die Kropfentleerung, um die soziale und persönliche Psychohygiene? Braucht es dazu diese Versammlung Betroffener auf dem Brandplatz, da es doch nichts mehr zu debattieren gibt, nachdem die Blaulichtorganisationen abgezogen sind?
Die Session als Trauerarbeit?
Und woher die Wut der Parlamentarier? Wenn man der Meinung ist, der Ordnungsrahmen sei unzureichend, die Banken müssten an der kurzen Leine geführt werden, warum erlässt das Parlament nicht die entsprechenden Gesetze? Weil es diese Gesetze bereits erlassen hat, nach der vorletzten Rettung einer Grossbank vor der Pleite, und es halt nichts tun kann, wenn der Bundesrat im Ernstfall auf ihre Anwendung verzichtet?
Hat sich das Parlament letzte Woche um die Wahrheit bemüht, um die Klärung der Fakten? Ist das seine Aufgabe? Ist die Erhebung eines Tatbestandes nicht Sache der Gerichte? Müsste nicht das Bundesgericht die Beschwerdeinstanz sein? Warum verzichtet die Schweiz auf eine Verfassungsgerichtsbarkeit? Warum gibt es kein Rechtsmittel gegen die Verordnung vom Donnerstag, 16. März 2023?
Wann schafft das Parlament ein Rechtsmittel gegen diese und ähnliche, zukünftige Verordnungen? Warum beruft es sich nicht auf die Europäische Menschenrechtskonvention, die solche Rechtsmittel als Grundrecht definiert? Und was bedeutet dieses Fehlen? Das Ende des Rechtsstaates? Das Ende der Gewaltenteilung, der Checks and Balances?
Oder ist die Rechtsmittelgarantie nach Meinung des Parlaments untergeordnet?
Und falls ja, muss das so bleiben?
Oder ist das Parlament der Ansicht, dass der Bundesrat, dieses lustlose Gremium, trotz aller Vorbehalte und Fastskandale, eben doch ein Direktorium sei, die Regierung dieses Landes und im Fall der Fälle genau das tun müsse: das Heft in die Hand nehmen, zeigen, wo der Bartli den Moscht holt, und die Schweiz vor dem Untergang retten? Was bliebe dann dem Parlament? Die Rolle als turbulente Plauderstube? Ist das nicht frustrierend? Steht dies nicht im Widerspruch zur Bundesverfassung, die ebendieses Parlament als oberste Behörde des Bundes bezeichnet?
Falls das Parlament wütend oder frustriert ist, weil es vom Bundesrat vor vollendete Tatsachen gestellt, oder, wenn man will, zum wiederholten Mal über den Tisch gezogen wurde, fände die Frustration nicht einen Ausweg über die Legiferierung? Scheut man sich davor, weil man keine Mehrheiten findet? Ist das nicht seltsam, wenn doch rechte und linke Kehlen während dieser Sondersession gemeinsam in die Jeremiade über die bösen Bankiers einstimmten?
Will oder kann das Parlament nicht? Warum rührt das Parlament seine demokratische Macht nicht an? Weil man sich davor fürchtet?
Und wenn der Bundesrat beteuert, die rechtliche Grundlage der Artikel 184 und 185 sei für die Verordnung ausreichend, könnte man einer staatsrechtlichen Beschwerde nicht gelassen entgegensehen?
Ist die Gefahr nach dieser ausserordentlichen Session nun gebannt? Oder droht weiterhin der Untergang und das Risiko wurde bloss quer über den Zürcher Paradeplatz an den UBS-Hauptsitz verschoben? Wie gross wäre der befürchtete Schaden für die Volkswirtschaft, wenn die UBS pleiteginge, nicht nur fast wie damals, vor fünfzehn Jahren, als man die heutige Retterin retten musste? Kennt jemand diese Zahl? Welche Massnahmen wären dann verhältnismässig? Ginge es dann um vierhundert Milliarden, um das Doppelte, um eine Billion vielleicht?
Hatte der Bundesrat eine Wahl? Wie hätte sie ausgesehen? Hat er sich gemeinsam mit den nachgeordneten Behörden einfach ins Unvermeidliche geschickt? Wäre er dann nicht den Menschen in den antiken Tragödien gleich, hilflos den Launen der Götter überlassen? Wäre diese Verordnung noch Ausdruck der Macht, sondern nicht vielmehr der Ohnmacht?
Oder liegt das Problem gar nicht beim Bundesrat und auch nicht beim Parlament? Da so oft auf der direkten Demokratie bestanden wird, auf dem Volk als Souverän, als erste und letzte Instanz des Staates, müsste man nicht konsequenterweise dieses Volk verantwortlich machen? Oder sind wir, das sogenannte Volk, ebenso hilflos und ohnmächtig? Können wir, als Staatsbürger, unsere Freiheit überhaupt denken, als Möglichkeit? War die letzte Woche, diese Sondersession, dieser Budenzauber einer Demokratie, dieses Schaustück, ein Beweis für das Versagen dieser Gesellschaft? Ist es für uns als Staatsbürger noch möglich, die Freiheit überhaupt zu denken, oder haben wir vor der Macht des Faktischen, also des Kapitals, kapituliert?
Wäre es dann nicht billig, sich über die Banken und die Manager und die Macht und die Verantwortungslosigkeit zu erzürnen, wenn sie doch nur taten, was wir sie machen liessen?
Und hatte nicht dieser traurige Mann mit Brille und Krawatte recht, dem wir alle zusehen durften, an jenem Sonntagabend, dem 19. März, in der Liveübertragung der Berner Medienkonferenz, jener Mann, der wie ein Pennäler mit langgezogenen Ohren auf dem Podium sass und auf die Frage, wer verantwortlich für dieses Schlamassel sei, so aufrichtig, so bubenhaft unschuldig antwortete, es sei immer einfach, zurückzuschauen – hatte er trotz seiner Impertinenz nicht im Grunde recht? Muss der Blick nach vorne, in die Zukunft, nicht schwer sein für jene, die am Abgrund stehen? Zweifelt jemand daran, dass dies für den letzten Chef einer Grossbank mit hundertfünfzig Jahren Geschichte zutraf, aber glaubt jemand, er war damit alleine? Wer steht alles am Abgrund? Die Banken? Die Schweiz? Die Politik? Wir alle?
Darf man dieses Bankendesaster, diese erneute Kernschmelze, in einem Zusammenhang mit der restlichen Politik dieses Landes bringen? Kann man behaupten, der Bundesrat habe in seiner Verordnung vom 16. März 2023, im Sinne der Neutralität entschieden? Ist die Voraussetzung für Neutralität nicht Souveränität? Ist es nicht selbstverständlich, dass die Regierungen dieser Welt die Schweizer Lösung loben, da sie ja nicht dafür bezahlen müssen?
Und ist es nicht verständlich, wenn gewisse Regierungen ihren Einfluss geltend machen, und ist es nicht in der Vergangenheit zuerst die amerikanische Regierung gewesen, die dieser Schweiz den Takt vorgab, oder, wer will, ihr den Marsch geblasen hat?
Ist es keine bittere Pointe der rechten Unabhängigkeitsrhetorik, wie oft der Druck aus Washington Bern springen lässt? Wer wagt es, die Beispiele aufzuzählen? Zeigt dies nicht die doppelte Hilflosigkeit der Schweiz? Der Sachlage und den Interessen gegenüber? Und wenn das eine zu komplex scheint und das andere zu übermächtig, ist diese Hilflosigkeit nicht ähnlich jener eines Untertanen, oder, um es moderner zu formulieren, beschreibt dies nicht eine koloniale Situation? Oder sind wir noch stets das freie Volk von Brüdern undsoweiter? Wer glaubt daran?
Was bräuchte es dann? Eine Idee, die begeistert, die soziale Kraft, die sie befördert, Institutionen, die sie verwirklichen? Und wer fragt, woher sie kommen könnte? Natürlich aus einem Bewusstsein, wie jede Idee, aber ein Bewusstsein braucht Bildung, braucht Bedingungen, es entsteht nicht aus dem Nichts, und wäre da nicht die politische Frage, wie diese Bedingungen geschaffen werden können?
Sollte man nicht lieber fragen, wie sie kommen kann, welche Bedingungen wir schaffen müssen, um jene Veränderung herbeizuführen? Ist die Aufgabe nicht einfach formuliert? Geht es nicht darum, die Macht der Banken zu zerstören, die Macht über unser Leben, über unsere Freiheit? Wer zweifelt am Willen, dies zu tun?
Und wenn das Parlament der laufenden Legislatur zu dieser Rechtsgebung nicht bereit ist, müssten sich die Bürgerinnen nicht umsehen, ob da nicht Menschen seien, die für ein politisches Projekt stehen?
Gibt es diese Menschen überhaupt, und gibt es die Bürgerinnen, die sie wählen würden? Oder hat sich der Souverän mit den allgemeinen Zuständen abgefunden, ist er höchstens besorgt, ob der eigene Anteil am Wohlstand nur weiter zunimmt? Wäre das nicht eine Definition von Resignation? Ist diese Haltung nicht einer Demokratie entgegengesetzt? Bedeutet Demokratie Herrschaft des Volkes oder Herrschaft für das Volk? Und muss man nicht den Eindruck gewinnen, diese Resignation sei nicht alleine ein Merkmal im Umgang mit den unseligen Banken, sondern auch in anderen Geschäften feststellbar? In der Europapolitik, mit den Verhandlungen zum Rahmenabkommen und dem Brüsseler Rückzug von 2021? Und in der Sozialpolitik in den Leistungskürzungen und der Erhöhung des Rentenalters? Brauchen wir nicht andere Lösungen, und müssen sie nicht ausserordentlich sein?
Und warum ist die Verordnung auf den Donnerstag, den 16. März und nicht auf den 19. März datiert, wo doch der Bundesrat angeblich erst da seinen Beschluss fasste? Kann mir das jemand erklären?