Kreischende Kettensägen tun mir weh – nicht nur im Ohr, sondern auch im Herzen: Denn wenn sie aufheulen, weiss ich, dass in der Nähe ein Baum fällt. Mit diesem Mitleid bin ich offenbar nicht allein, wie eine 2019 veröffentlichte Studie über Einfühlung und Anteilnahme der Pariser Sorbonne Université belegt. Demnach würden Menschen das Leben einer Eiche eher schonen als das eines Eichhörnchens oder eines Froschs. Nur Orang-Utan, Mitmensch, Schimpanse, Fuchs und Koala schienen den Testteilnehmern noch schonenswerter – in dieser Reihenfolge!
«Metaphysik, Romantik? Nein, Wissenschaft», schreibt der deutsche Mediziner und Bestsellerautor Joachim Bauer (69) in seinem neuen Buch, worin er die Studie präsentiert. «Es waren keine Esoteriker, sondern ‹ganz normale Menschen›, die Wissenschaftlern Auskunft darüber gaben, welches Mass an Empathie sie für ihnen unbekannte Mitmenschen, aber auch für Tiere und Pflanzen empfinden.» Bemerkenswert: Das Mass der Empathie ist umso höher, je später sich unser Stammbaum von dem des jeweiligen anderen Lebewesen trennte.
«Die Geschichte der Empathie innerhalb des Lebens eines Menschen nimmt ihren Anfang in den ersten Lebenstagen», so Bauer. Ein Baby schreit und bekommt Fürsorge. Später erfolgt die Erziehung zur Rücksichtnahme auf Mitmenschen. So sprach US-Präsident Joe Biden (78) in seiner Inaugurationsrede davon, wie seine Mutter ihn aufforderte, sich ins Gegenüber zu versetzen. Das macht uns zu mitfühlenden Wesen, schreibt Bauer. «Wir fühlen Schmerz, wenn wir zufällig mitansehen müssen, wie jemand anderer sich den Finger einklemmt oder sich mit dem Messer schneidet.»
Doch der Mensch fühlt eben nicht nur mit seinesgleichen. Evolutionsforscher Charles Darwin (1809–1882) erkannte bereits 1871 diese edelste Tugend, mit der der Mensch ausgestattet sei: «Menschlichkeit gegenüber niedereren Lebewesen scheint eine der evolutionär spätesten moralischen Errungenschaften des Menschen zu sein.» Durchaus zum Eigennutz, wie Bauer jetzt ausführt: «Unsere Vorfahren mussten, wenn sie weiterzogen, ständig eine neue Welt entdecken.» Nicht nur das Verhalten von Tieren mussten die Nomaden richtig deuten, auch ortsgebundene Lebewesen wie Pflanzen und Bäume.
Mit der Sesshaftigkeit änderte sich alles, schreibt Bauer. «Die Natur war, bevor der Mensch vor rund 12'000 Jahren mit Ackerbau und Viehzucht begann, noch kein der Ausbeutung unterworfener Bewirtschaftungsraum.» Doch nach dem Raubbau stehe die Welt heute ökologisch auf der Kippe. Bauers Forderung: «Auflösung des Widerspruchs zwischen der objektiven ökologischen Bedrohung und dem Mangel an eine angemessene subjektive Reaktion der Menschen kann nur gelingen, wenn wir die Empathie, die Menschheit und Natur einst verbunden hat, wiederentdecken und stärken.» Und danach handeln.
Joachim Bauer, «Fühlen, was die Welt fühlt – die Bedeutung der Empathie für das Überleben von Menschheit und Natur», Blessing