Zur Sache! Neue Non-Fiction-Bücher
«Wir verlieren Schlüssel, aber auch unser Herz oder unseren Glauben an die Welt»

«Es tut nichts, du hast manche Liebe verloren», schreibt der Schweizer Dichter Albin Zollinger (1895–1941) in seinem Gedicht «Gelassenheit». Genauso müssen wir Verlusten begegnen, denn sie begleiten uns ein Leben lang.
Publiziert: 16.01.2024 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 13.02.2024 um 17:24 Uhr
Das Leben ist kein Fundbüro: Viele Sachen gehen für immer verloren – und damit müssen wir leben lernen.
Foto: Pius Koller
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Die Anfangssätze der Kurzgeschichte «Eltern» des deutschen Schriftstellers Michael Schulte (1941–2019) begleiten mich seit Jahren. «Meine Eltern sind gestorben», heisst es dort. «Jetzt muss ich keine Angst mehr haben, dass meine Eltern sterben.» Seit auch meine Mutter vor drei Jahren gestorben ist, wich diese Angst tatsächlich. Denn wie Eltern um ihre Kinder bangen, so steigert sich bei Kindern die Besorgnis um ihre Eltern, je betagter die werden. Dafür ersetzt das Gefühl der Trauer das der Angst.

«Ich könnte ihren Beginn an jenen Tag verorten, als ich im Begriff war, eine Bühne in Heidelberg zu betreten, und meine Mutter anrief, die am Abend eigentlich nie anrief», steht im aktuellen Sachbuch-Bestseller des deutschen Autors Daniel Schreiber (46) über seine Trauer. «Ich wusste, was der Anruf bedeutete.» Und deshalb jagte er ihm einen Schrecken ein. Doch Schreiber liess sich nichts anmerken, hatte seinen Auftritt. Er rief danach seine Mutter an, die ihm sagte, dass sein Vater gestorben sei.

«Die Zeit der Verluste» heisst Schreibers Essay. Er hat sich einen Namen gemacht mit Sachbuchthemen, denen er sich persönlich nähert: So schreibt er in «Nüchtern. Über das Trinken und das Glück» (2014) seine eigene Geschichte und setzt sich mit der deutschen Einstellung zum Alkohol auseinander; und «Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen» (2017) handelt von seiner Kindheit in der DDR und seiner Homosexualität.

Nun also Verluste. Wie immer geht der studierte Literatur- und Theaterwissenschaftler weit über das Persönliche hinaus und gibt einen tiefen Einblick in Soziologie und Philosophie zum Thema. So zitiert er «Lost & Found» (2022) der US-Amerikanerin Kathryn Schulz (50), die feststellt, dass Verlust eine sonderbare Kategorie sei. Schreiber bestätigt das, wenn er aufzählt: «Wir verlieren Schlüssel, Telefone oder unsere Lieblingskleidungsstücke, aber auch unser Herz, unseren Verstand oder unseren Glauben an die Welt.»

Corona-Krise, Klimawandel, Krieg in der Ukraine: «Womöglich rührt mein Unbehagen auch von den allgegenwärtigen Beschwörungen der Apokalypse her, denen wir seit einigen Jahren überall begegnen», so Schreiber. Manch einer habe seit der Pandemie das Gefühl, eine Art Realwerdung endzeitlicher Szenarien zu beobachten. «Doch bei dieser Realwerdung wird auch offensichtlich, dass sie völlig anders verläuft, anders aussieht und sich anders anfühlt als vorhergesagt», so Schreiber weiter.

Und wie reagieren wir auf Verluste? Indem wir sie verdrängen. Schreiber: «Das muss per se nichts Schlechtes sein.» Und er zitiert aus dem posthum erschienenen «Tagebuch der Trauer» (2010) des französischen Philosophen Roland Barthes (1915–1980). Darin schildert er sein Bemühen, «die Fassung zu bewahren». Er habe sich «eine Art Leichtigkeit» zugelegt, eine «Beherrschung, die die Leute glauben lässt, ich hätte weniger Kummer, als sie dachten» – der Verlust als Entlastung statt einer Belastung.

Daniel Schreiber

«Die Zeit der Verluste», Hanser Berlin

«Die Zeit der Verluste», Hanser Berlin

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