Spüren Sie seit letzter Woche eine Art Jetlag-Gefühl und mögen morgens kaum aufstehen, weil wir am letzten Märzwochenende die Uhren für die Sommerzeit eine Stunde vorstellten? Hinken Ihre Backofenuhr und die digitale Zeitanzeige im Auto noch immer eine Stunde hinterher? Das dürfte man dann wohl eine Erfahrung der Zeit nennen. Doch wie war das Zeitgefühl, als es noch nicht an jedem Gerät eine integrierte Uhr gab?
«Erfahrung der Zeit 1350–1600» nennt der Deutsche Christian Kiening (60) sein kürzlich erschienenes Buch. Der Professor für Ältere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich fokussiert darin auf jene Epoche, in der die Menschen begannen, nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit möglichst genau zu vermessen und in kleinere Einheiten einzuteilen – um das Leben der Bevölkerung gleichmässig zu takten.
«Das Messen von Abläufen gewinnt seit dem 14. Jahrhundert an Bedeutung», schreibt Kiening. «Verschiedene Arten von Uhren breiten sich aus: die noch relativ neuen Sanduhren ebenso wie die seit langem bekannten Sonnenuhren.» Vor allem aber mechanische Uhren oder Räderuhren, die an die im klösterlichen Bereich benutzten Werkeinrichtungen anschliessen – das streng eingeteilte religiöse Leben gibt den Takt der profanen Arbeitswelt vor.
«Die Glockenschläge der Kirchen- und Turmuhren beginnen im späten Mittelalter das (städtische) Leben zu strukturieren», so Kiening weiter – zunächst auf die Stunden beschränkt, zeigen sie im 15. Jahrhundert immer öfter auch die Viertelstunde an. Das Rechnen in Zeiteinheiten gerät den Gebildeten zur Selbstverständlichkeit. Kaufleute richten ein «conto de tempo» (Zeitkonto) ein, um Zahlungstermine im Blick zu behalten.
War der Unterschied zwischen Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem lange eher relativ, so macht ihn die Dominanz der linearen, gemessenen Zeit ganz klar: Die Gegenwart presst sich auf einen Punkt zusammen, der unaufhörlich an der Linie entlanggleitet – sie führt von der Vergangenheit in die Zukunft und verwandelt Zukunft in Vergangenheit. Die Gegenwart ist schnell vergänglich, unwiederbringlich und unfassbar.
«Am deutlichsten werden die Blick- und Aufmerksamkeitsverschiebungen in den Aufzeichnungen, die Michel de Montaigne von seiner 1580/81 unternommenen Reise durch Deutschland, die Schweiz und Italien anfertigte», schreibt Kiening. Zwei Aspekte bestimmen die Perspektive: eine kritische Sicht auf die Gegenwart und ein Bewusstsein des Alterns. Kiening: «Bei Montaigne ist die Zeit zunächst einmal vom Ende her gedacht.»
Es sei der Tod, der das Nachdenken über das Leben bestimme. In diesem Sinn werde die Sanduhr in den Jahren nach 1500 zu einem Zeichen des Todes. «Es bringt weniger die abrupte Konfrontation mit dem Lebensende zum Ausdruck als dessen beständige Möglichkeit», so Kiening. Es verschiebe die mit dem Erscheinen des Todes verbundene Gewaltsamkeit in den Bereich der Reflexion.
Christian Kiening, «Erfahrung der Zeit 1350–1600», Wallstein