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Wie man Kunst zum Reden bringt

«Vergessen Sie nicht, dass die Kunst nur ein Weg ist, nicht ein Ziel», sagte einst Rainer Maria Rilke (1875–1926). Doch es muss ein Ziel sein, den Weg der Kunst nachzuzeichnen.
Publiziert: 01.11.2022 um 09:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2022 um 14:01 Uhr
Gegenstand der Provenienzforschung: das Gemälde «Mohnblumenfeld bei Vétheuil» von Claude Monet im Kunsthaus Zürich.
Foto: Keystone
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Woher kommt sie? Wer machte sie? Wie alt ist sie? Diese Fragen stelle ich mir manchmal, wenn ich die schlicht-schöne, türkisfarbene Keramikvase betrachte, die mir meine Mutter hinterliess. Wenn andererseits meine Erben dereinst vor der bunt-blühenden Collage mit der Delfter Vase stehen, wissen sie nicht, wie das Bild zu mir kam, wie ich es dieses Frühjahr an einer Ausstellung in Winterthur entdeckte und wie es uns die Rikoner Künstlerin Maja Roncoroni (56) persönlich vorbeibrachte. Sie wissen es nicht – ausser sie forschen nach und stossen auf diesen Text. Dann kennen sie die Provenienz, zu Deutsch: die Herkunft.

«Provenienzforschung hat Konjunktur», schreibt der deutsche Kunsthistoriker Christoph Zuschlag (58) in seinem eben erschienenen Buch. «Aber wird das auch noch in 20, 50 oder 100 Jahren der Fall sein? Ich meine ja!» Den Boom und die Dringlichkeit ausgelöst haben aber nicht Kunstwerke privater Haushalte, sondern Sammlungen öffentlicher Museen, vorab solche aus der Schweiz: das Kunsthaus Zürich mit dem umstrittenen Monet-Gemälde aus dem Nachlass von Dieter Bührle (1890–1956) und das Kunstmuseum Bern mit der Schenkung von Cornelius Gurlitt (1932–2014).

«Aktuell wird Provenienzforschung vor allem im Zusammenhang mit sogenannten Unrechtskontexten praktiziert», schreibt Zuschlag. In der Schweiz geht es um die Frage, wie gewisse Werke aus jüdischem Besitz in die Sammlungen Bührle und Gurlitt gelangten; in Frankreich, Deutschland und Grossbritannien müssen Museen antworten, wie rechtmässig sie an Kulturgüter aus ihren ehemaligen Kolonien kamen. «Ein Streitfall ist die Büste der Nofretete in Berlin», schreibt Zuschlag. 1912 von der Deutschen Orient-Gesellschaft ausgegraben, forderte Ägypten 1925 die Büste erstmals zurück, zuletzt 2011.

Ausgrabungen sind eine von vielen möglichen Arten, wie Kulturgüter in andere Hände und an andere Orte gelangen. Weitere Möglichkeiten sind Handel, Kunstmarkt oder Vererbung, aber auch Kriege, Raub und Diebstahl. Zuschlag: «Napoleon und Hitler sind zwei besonders gravierende Beispiele dafür, wie militärisch-kriegerische Auseinandersetzungen häufig mit staatlich organisiertem Kunstraub einhergehen.» Von der Antike bis ins 19. Jahrhundert habe es als Privileg des Siegers gegolten, das Eigentum der Besiegten zu zerstören, zu plündern und zu rauben.

Hier kommt die Provenienzforschung zum Einsatz, um die oft verworrenen Wege von Kunstwerken aufzuzeigen und zu belegen, wo es rechtmässige und wo es unrechtmässige Besitzwechsel gab. «Die Provenienzforschung beginnt meist mit einer genauen Autopsie des Objekts selbst», schreibt Zuschlag. Danach folgen Recherchen zu Personen mithilfe von Archiven, Fachliteratur und Internetquellen. Eine wahre Detektivarbeit, die oft lückenhaft bleibt. Zuschlag: «Wichtig ist, dass Lücken in Provenienzketten eindeutig als solche gekennzeichnet werden.»

Christoph Zuschlag, «Einführung in die Provenienzforschung – wie Herkunft von Kulturgut entschlüsselt wird», C. H. Beck

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