Wenn Archäologen in ein paar Tausend Jahren auf Bildmaterial von kilometerlangen Osterstaus vor dem Gotthard Richtung Süden stossen, werden sie das unter Umständen nicht richtig deuten können. Sie denken vielleicht: All diese Menschen in ihren Karossen waren auf dem Pilgerweg zum Petersdom nach Rom, wo die damalige katholische Kirche ihren Sitz hatte – und Ostern war einer ihrer höchsten Feiertage. Und sie ahnen nicht, dass die meisten dieser «Pilger» bereits im Tessin ihr Ziel erreichten.
Reisen in der Vergangenheit richtig nachvollziehen, das will Anthony Bale (48), Professor für Geschichte des Mittelalters am renommierten Birbeck College der University of London. «Und ich habe meine Koffer gepackt und bin den Routen der mittelalterlichen Reisenden gefolgt – bis in die Strassen und Kirchen von Rom und Jerusalem», schreibt er in seinem diese Woche auf Deutsch erschienenen Buch. Er macht nicht bloss eine Reise in die Zeit, sondern eine Reise in der Zeit von damals – hinreissend und herausragend.
«Für dieses Buch nutze ich die Autoren mittelalterlicher Reiseführer und Reiseberichte als Gewährspersonen», schreibt Bale. In der Zeit zwischen dem 6. und 15. Jahrhundert waren die Menschen als Kirchgänger, Kartografen, Kaufleute oder Kreuzritter unterwegs. «Wenn es um die Gründe geht, warum sich Menschen auf den Weg in ferne Regionen machen», so der britische Mediävist, «dann gehört der Anreiz, zu plündern und Gebiete zu erobern, zu den bleibenden Faktoren.»
Das Reisen zu jener Zeit war weit entfernt vom vergnüglichen Freizeittrip heutiger Tage und verlangte einiges ab: Es brauchte Gepäck tragende Tiere, Gold und Geld in verschiedenen Währungen für die Wegezölle und Geduld: «Für die knapp hundert Kilometer lange Strecke von Aachen nach Bonn hätten zu Pferde Reisende etwa dreissig Stunden gebraucht», schreibt Bale. «Allein auf dieser Strecke musste sechsmal Wegezoll entrichtet werden.» Und Gasthäuser öffneten erst nach und nach – Tourismus entwickelte sich erst allmählich.
Wer nicht nur zum Papst nach Rom, sondern weiter zu Jesus in Jerusalem pilgerte, der kam am Franziskaner-Orden nicht vorbei, der «mehr oder weniger die Rolle eines Reisebüros für die Heiligen Stätten» (Bale) übernahm. Den genauen Verlauf und die Stationen der Via Dolorosa – des Leidenswegs Jesu von der Verurteilung durch Pilatus bis zur Kreuzigung – habe man erst im Verlauf des späten 15. Jahrhunderts formal festgelegt. Die Grabeskirche markiere den Höhe- und Schlusspunkt der «neu entwickelten» Tradition.
«Wie es Touristen zu allen Zeiten getan haben», schreibt Bale, «wollten unzählige Besucher in der Grabeskirche Spuren hinterlassen, indem sie sich mit Kratzern im Stein verewigten – eine Art Graffiti.» Für die Pilger war Jesus Christus quasi das Vorbild für ihr Tun. Denn, so Bale: «In der christlichen Tradition war Jesus der Prototyp des Reisenden.»
«Reisen im Mittelalter – unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern», S. Fischer.
«Reisen im Mittelalter – unterwegs mit Pilgern, Rittern, Abenteurern», S. Fischer.