Kennen Sie auch solche Momente? Manchmal liege ich nachts im Bett und denke an eine Wanderung, die ich tagsüber unternommen habe. Und ich stelle mir vor, wie sich die Bergroute, das Waldstück oder der Flusslauf zu dieser schlaftrunkenen Stunde in völliger Finsternis darbietet: Ein bisschen schauerlich wie bei der Pfadi-Taufe vor Jahrzehnten, als ich durch dunkles Dickicht stapfen musste – und ich kuschle mich tiefer in die Decke und geniesse die jetzige Ruhe und Sicherheit im Schlafzimmer.
«Nachts über das Land zu wandern – das bedeutet, einen dunklen, abenteuerlichen Kontinent zu betreten, von dem man mit wundersamen Entdeckergeschichten zurückkehrt», schreibt der britische Farmer und Autor John Lewis-Stempel (56) in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch. Im ländlichen Herefordshire an der Grenze zu Wales aufgewachsen, musste er schon als Teenager nach der Sperrstunde einen Fünfkilometer-Fussmarsch vom Pub nach Hause machen.
Aus der anfänglichen Notwendigkeit machte er ein lebenslanges Vergnügen: Lewis-Stempel ist ein leidenschaftlicher Nachtwanderer. Doch er hat ein Problem: «Ein Mann, der nachts alleine herumläuft, wird als Krimineller betrachtet», schreibt er, «es sei denn, er führt seinen Hund aus.» Und so unternahm er seine nächtlichen Streifzüge durch Wald und Wiese fortan mit seiner schwarzen Labrador-Hündin Edith. «Sie brauchte Bewegung, und ich brauchte einen Vorwand.»
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Zunächst führt Nachtwandern zu einem Sinneswandel. Zwar beschreibt Lewis-Stempel, wie Mondlicht auf einem Stoppelfeld ein Seherlebnis ist. «Aber draussen in der gewöhnlichen Dunkelheit erwachen andere, sonst ruhende Sinne zum Leben.» Der Tastsinn, wenn er mit Fingern Bäume abtastet; das Gehör, weil er Laute vernimmt, die ein reines Tagwesen nicht bemerkt. «Die grösste Offenbarung in der Dunkelheit ist jedoch der Geruchssinn», so Lewis-Stempel. «Jede Blume, jede Wiese, jeder Wald duftet nachts stärker.»
Nicht nur die Flora, auch die Fauna hat nachts eine andere Qualität, weil Tiere nicht mit einer menschlichen Begegnung rechnen. «In der Nacht finden die grossen Wanderbewegungen statt», schreibt «der grösste Naturschriftsteller Grossbritanniens» («The Times»). Krabbeln Frosch, Igel und Co. über Strassen, endet das zuweilen tragisch. Lewis-Stempel: «Es sind immer die Nachttiere, die überfahren werden, nicht wahr? Verwirrt und gelähmt von den Scheinwerfern dahinrasender Autos.»
Das Licht ist dem Nachtwanderer ein Dorn im Auge – Strassenleuchten meidet er, die mitgeführte Taschenlampe zündet er nur aus Sicherheitsgründen an, wenn ein Auto vorbeifährt. «In nur zehn Jahren, von 1990 bis 2000, nahm die Lichtverschmutzung in England um 24 Prozent zu», schreibt Lewis-Stempel, «inzwischen können nur noch 10 Prozent der britischen Bevölkerung nachts die Milchstrasse sehen.» In der Schweiz bewirbt sich das Gantrisch-Gebiet um ein Prädikat Dark Sky Park – ein Ort ohne Lichtverschmutzung.
«Wandern bei Nacht – was wir in der Dunkelheit erleben können», Dumont.
«Wandern bei Nacht – was wir in der Dunkelheit erleben können», Dumont.